Achtsamkeit für jeden Tag

Geduldiger werden

Auf etwas warten zu müssen kann uns ganz schön auf die Probe stellen. was dir in solchen Situationen hilft, die Ruhe zu bewahren, erfährst du von Boris Bornemann

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Was bedeutet Geduld überhaupt?

Geduld ist die Fähigkeit, auf etwas zu warten, was wir uns wünschen, oder aber mit etwas Unangenehmem zu leben. Entscheidend ist dabei der Gemütszustand. Geduldige Menschen nehmen zwar wahr, dass etwas unangenehm ist oder sie eine starke Sehnsucht haben, können das Leben aber trotzdem weiter genießen. Früher hieß diese Fähigkeit auch Langmut, was bedeutet: Wir können über lange Zeit guten Mutes bleiben, auch wenn nicht immer alles so läuft wie geplant.

Illustration: Lieke van der Voors

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Warum ist Langmut im Alltag hilfreich?

Interessant ist erst mal, dass sie sich schon im Kindesalter messen lässt, zum Beispiel mit dem sogenannten Marshmellow-Test. Man gibt Kindern einen Marshmellow und stellt sie vor die Wahl: Entweder du isst ihn jetzt gleich. Oder du wartest eine Viertelstunde und bekommst dann noch einen zweiten dazu. Menschen, die mit vier Jahren besser warten können, kommen auch als Teenager besser in der Schule zurecht. Sie haben eine größere Frustrations­toleranz, gelten als beherrschter und zeigen auch objektiv bessere Leistungen. Und eine indische Studie legt nahe, dass beharrliche Menschen auch zufriedener sind. Nicht nur, weil sie ihre Ziele erreichen. Sondern auch, weil sie ruhiger und ausgeglichener sind. Das ist eine gute Voraussetzung für das Glück.

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Gerade auf die schönen Dinge im Leben warten wir oft ungern. Warum?

Wenn wir uns etwas Schönes vorstellen, ist es für das Gehirn so, als wäre es bereits zum Greifen nahe. Es wird Dopamin ausgeschüttet. Das Schöne dann nicht zu bekommen führt zu Frustration, es ist fast, als würde es uns aus der Hand gerissen. Deshalb sollten wir uns bewusst machen, wie wir die Ungeduld durch unsere Gedanken anheizen. In der Corona-Zeit kommt noch die Unsicherheit hinzu. Das Gefühl, dass sich etwas nicht klar voraussehen lässt, aktiviert in unserem Gehirn das sogenannte anteriore Cingulum und im Körper das sympathische Nervensystem. Beides soll uns helfen, die Situation durch besondere geistige und körperliche Anstrengungen zu klären. Wenn das aber nicht geht, kann die Energie nirgendwo hin und wir erleben sie als Stress.

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Wie helfen Meditation und Achtsamkeit, geduldiger zu werden?

Meditation ist ein sehr guter Weg, Geduld zu üben. Mit unserer Aufmerksamkeit im Körper und im Atem zu ruhen, bringt uns ins Hier und Jetzt. Wir bemerken so eher, wenn wir uns in Sehnsüchten und Fantasien verlieren. Wir ­können dann auch erforschen: Wie fühlt sich dieses Bedürfnis an? Was passiert bei mir, ­genau jetzt? So können wir spüren, wie lebendig uns diese Bedürfnisse machen, statt weiter darüber zu klagen, dass gerade nicht das ­passiert, was wir wollen. Diese lebendige Energie können wir nutzen, um das umzusetzen, was gerade möglich ist und auf das wir nicht warten müssen. Wir können uns auch fragen, wofür wir dankbar sind, und so dem Gefühl des Mangels etwas entgegensetzen. Das hilft uns zu erkennen, dass eine ganze Menge in unserem Leben bereits gut ist. Dadurch entsteht auch Kraft, Schwierigkeiten anzugehen.

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Was kann ich noch tun, um mich in Geduld zu üben?

Das Wichtigste ist zunächst, die Ungeduld zu bemerken. Spannst du den Kiefer an, wirst innerlich unruhig oder ­wackelst mit dem Fuß? Hast du Gedanken, die dich antreiben? Erzählst du dir gerade die Geschichte, dass du erst glücklich sein kannst, wenn du dein Ziel erreicht hast? Oder dass Warten beim Arzt total nervig ist? Dann atme tief durch, spüre deinen Körper und mach dir klar, dass diese Unruhe durch deine eigenen Gedanken erzeugt wird. Was zunächst wie eine Schuldzuweisung klingt, ist tatsächlich sehr ermächtigend. Denn du hast den weiteren ­Verlauf in der Hand. Wende dich dir freundlich zu. Spüre deinen Körper und beschreibe dir selbst deine Gefühle. In ihnen liegt die Energie, die du in diesem Moment nutzen kannst. Du kannst dich fragen, was dir jetzt guttun würde. Vielleicht etwas lesen? Weiter den Körper spüren und die Zeit für eine kleine Meditation nutzen?

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Im Moment geht vieles nicht, was wir uns wünschen. Was hilft, die Durststrecke zu überwinden?

Wenn wir von einem Urlaub träumen, in den wir gerade nicht fahren können, oder von Veranstaltungen, die jetzt so nicht stattfinden, können wir uns fragen: Um welches Bedürfnis geht es dabei genau? Und gibt es vielleicht alternative Wege, um es auszuleben? Manche Menschen erfreuen sich an ­Tätigkeiten, bei denen sie langsam, aber stetig etwas erschaffen – sich um Pflanzen kümmern oder etwas nähen. Solche Tätigkeiten beruhigen und trainieren uns in Geduld. Aber vielleicht willst du auch lieber laut Gitarre spielen, tanzen oder ­intensiv Sport treiben – und damit kreativ dein Bedürfnis ausdrücken, dich zu spüren und intensiv zu erleben.

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Manchmal erweist sich eine ­Aufgabe als ungemein zäh. Wie bleibe ich trotzdem dran?

Wenn wir mit einem Artikel, einer Abschlussarbeit oder einem kniffligen Problem ringen, ist es kurzfristig erleichternd, sich abzulenken. Und auch ganz aufzugeben kann sehr verführerisch sein. Man wäre die ganze Anstrengung los. Aber nach der Erleichterung kommt oft die Reue. Das Gefühl, nicht wirklich für seine Träume und Wünsche einzustehen. Das sollten wir uns bewusst machen. Meditationserfahrung hilft in solchen Momenten sehr. Wir können die Körperempfindungen beobachten, die Anspannung und die Unruhe, und wissen, dass das vorübergeht, wenn wir beharrlich voranschreiten. Es ist außerdem wichtig, sich für die Mühe zu belohnen, nicht für das Ergebnis. Leg am besten schon vorher fest, wie lange du arbeiten willst, und mach regelmäßig kurze Pausen, zum Beispiel alle vierzig Minuten.

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Wie sehr beeinflusst unsere Umgebung unsere Fähigkeit zu warten?

Neuere Untersuchungen des Marshmellow- Tests zeigen, dass die Fähigkeit von Kindern zu warten sehr stark von ihrem ­Elternhaus abhängt. Geht es zu Hause verlässlich und gerecht zu, können sie auch dem Versuchsleiter vertrauen. Müssen sie aber ständig Sorge haben, dass ihr Bruder ihnen den Marshmellow wegisst, während sie auf den zweiten warten, oder dass die Mutter sich das mit der Belohnung noch mal anders überlegt, nehmen sie lieber, was sie kriegen können. Sofort und ohne Rücksicht auf die Zukunft. Wenn wir also faire und sichere Umgebungen schaffen, sind wir alle etwas entspannter. Was beim Warten im Supermarkt oder beim Arzt zudem hilft, ist genügend Raum. Gestresst und ungehalten werden wir nämlich besonders dann, wenn andere Menschen uns zu nahetreten.

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Was lehrt uns die Corona-Krise in Sachen Geduld?

Vielleicht, dass gegenseitige Rücksichtnahme allen guttut. Dass dadurch alles etwas ruhiger und freundlicher passiert. Wir haben auch gesehen, dass wir Wünsche aufschieben können, wenn es um ein wichtiges Ziel geht. Ich hoffe, dass uns das hilft, mit den kommenden Umbrüchen umzugehen. Denn wenn wir unsere Gesellschaft ­gerechter und nachhaltiger gestalten wollen, müssen wir uns auf einige Veränderungen einstellen. Nicht alles wird sofort klappen und auf einiges werden wir warten müssen. Aber wenn wir uns alle an den Wert des Ziels erinnern, können wir gemeinsam beharrlich sein und Erstaunliches erreichen.

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Wie beeinflusst Geduld mein Wohlbefinden?

Wer geduldig ist, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Biologisch heißt das: Unsere Kampf- und Fluchtimpulse werden weniger stark aktiviert. Unser Zustand wird stärker vom Parasympathikus, unserem beruhigenden Nervensystem, dominiert. Der erlaubt unseren Organen zu regenerieren. Das Herz schlägt langsamer und variabler, ist insgesamt gesünder. Wer entspannt ist, ist auch kreativer und behält leichter den Überblick. Wir sind schwingungsfähiger, können uns leichter auf andere einstellen. Ihnen auch mal ihre Fehler und Eigenheiten nachsehen. Das stärkt unsere Beziehungen. Wer geduldig ist, kann fester mit seinen Werten und Zielen verwurzelt bleiben, auch wenn die Zeiten stürmisch sind. Geduld gibt uns Kraft. Sie hilft uns, unsere Träume zu verwirklichen.

Illustration: Lieke van der Voorst, Foto: Julia Baier