Zeitgeist
Die neue Lust am Radfahren
Die Nachfrage nach Fahrrädern ist so groß wie nie: In der Pandemie haben viele Menschen das Radfahren für sich entdeckt. Es ist gut für uns und das Klima und es macht glücklich. Woran liegt das?
Mühelos rollt mein Rad über den Asphalt. Ich trete gleichmäßig in die Pedale, spüre den Wind im Gesicht und nehme ein paar tiefe Atemzüge. Hier, inmitten von Pferdekoppeln und Wäldern, fühle ich es: ein kleines Stück Freiheit. Abstandsregeln und Maskenpflicht sind für eine Weile vergessen, denn außer ein paar Spaziergängern treffe ich hier draußen niemanden.
Rad gefahren bin ich schon immer gern, doch das vergangene Jahr hat etwas verändert. In einer Zeit, in der sich mein Bewegungsradius durch Lockdown und Homeoffice über Monate auf mein Wohnviertel beschränkte, wuchs in mir die Sehnsucht nach Bewegung und Weite. An einem Samstagmorgen holte ich mein Rad aus dem Keller, steuerte Richtung Elbe und sitze seitdem regelmäßig im Sattel.
So wie ich entdeckten im Corona-Jahr viele Menschen das Fahrrad für sich. Von einer Trendwende in der Mobilität, einer Velorution, ist sogar die Rede. Ich frage mich: Warum macht das Radfahren glücklich? Fest steht: Corona hat der mehr als 200 Jahre alten Fortbewegungsform eine neue Bedeutung verliehen. Fitnessstudios und Sportvereine mussten vorüber-gehend schließen, Berufspendler mieden den öffentlichen Nahverkehr aus Angst vor Ansteckung, und weil auch Urlaubsreisen nur stark eingeschränkt planbar waren, stieg das Interesse an Radreisen in Deutschland.
AUF PLATZ EINS
Das Fahrrad steht seitdem als Fortbewegungsmittel und Sportgerät auf Platz eins. Die Folge: lange Schlangen vor Fahrradläden, leer gekaufte Lager und Wartezeiten auf ein neues Rad von mehreren Monaten. Die Umsätze der Fahrradbranche stiegen allein im vergangenen Jahr um rund 20 Prozent. E-Bikes mit integriertem Elektromotor, Lastenräder und faltbare Citybikes haben es aus der Nische herausgeschafft und sind in städtischen Gebieten inzwischen eine echte Alternative zum Auto. Neue Fahrradläden haben mit den vollgestopften Miniwerkstätten von einst nichts mehr zu tun – stattdessen gibt es dort fairen Kaffee, Magazine und tolle Räder zu kaufen. Flexible Sharing- und Mietmodelle wie Stadträder oder die holländischen Swapfiets mit dem markanten blauen Vorderreifen ermöglichen auch Menschen das Radfahren, die nur ab und zu damit unterwegs sind oder sich um die Wartung und Reparatur keine Ge-danken machen wollen.
„Es gibt nichts Schöneres, als einen Hügel hinunterzusausen
und den Fahrtwind im Gesicht zu spüren.“
Das Radfahren ist eine Lebenseinstellung geworden, und auch politisch bewegt sich was: Weltweit denken Städte ihre Verkehrsstrategie neu und diskutieren eine Umverteilung des vor-handenen knappen Raums. Im kolumbianischen Bogotá wurden während des ersten Lockdowns auf einer Strecke von mehr als 100 Kilometern temporäre Fahrradspuren eingerichtet, um den öffentlichen Nahverkehr zu entlasten und den gebotenen Abstand zu ermöglichen. Auch New York, Budapest, Paris, Hannover und Berlin sperrten als Reaktion auf den gestiegenen Radverkehr Fahrstreifen für Autos und richteten sogenannte Pop-up-Radwege ein – manche davon bleiben dauerhaft. Städte wie Amsterdam und Kopenhagen sind ohnehin seit Jahren Beispiele für eine vorbildliche Fahrradpolitik.
Eine vollbremsung
Dass so viele Menschen das Rad als gesundheits- und klimafreundliche Alternative entdecken, begrüßt die Nachhaltigkeitsforscherin und Psychologin Prof. Dr. Sophia Becker von der Technischen Universität Berlin. Sie untersucht zusammen mit ihrer Forschungsgruppe, wie die Verkehrswende in einer Metropolregion wie Berlin gelingen und durch praktikable Lösungen unterstützt werden kann. Sophia Becker sagt: „Radfahren war schon vor Corona ein großer Trend. Die Pandemie hat sich zusätzlich enorm positiv darauf ausgewirkt. Wir mussten binnen kürzester Zeit mit radikalen Veränderungen unseres Alltagslebens reagieren, das ganze Land hat im letzten Frühjahr eine Vollbremsung gemacht. Das bedeutete vor allem: weniger Konsum, weniger Reisen, weniger Arbeit im Büro und stattdessen Homeoffice.“
Der Autoverkehr in Berlin ging zwischenzeitlich um 25 Prozent zurück, die Radwege waren voll. Auf den Klimaschutz wirke sich das positiv aus, zumindest kurzfristig, sagt die Psychologin. Es finde ein Umdenken statt, doch diese Veränderungen seien bisher nur temporär: „Ich sehe die Pandemie als große Chance, dass wir als Gesellschaft ein umweltfreundlicheres Verkehrsverhalten entwickeln und dauerhaft mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen.“ Die wichtigste Voraussetzung dafür liege jedoch in der Verantwortung der Politik, die flächendeckend eine sichere Radinfrastruktur schaffen und den Autoverkehr und seine Privilegien stärker aus den Städten zurückdrängen müsse.
Wagemutige Mäuse
Das Fahrrad ist ein Klimafreund – doch es leistet mehr für uns, als unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. „Radfahren verändert unsere Sicht auf die Welt“, schreibt Herausgeber Peter Reichenbach in dem Band Die Philosophie des Radfahrens. „Und fast immer geht dieser neuen Sichtweise ein Schlüsselerlebnis auf dem Fahrrad voraus: Das kann das Meistern einer Bergetappe bei der Tour de France sein, die Teilnahme an einer Critical-Mass-Demonstration oder auch einfach die tägliche Fahrt zur Arbeit gegen Wind, Regen, Hitze und Verkehr.“
„Das Fahrrad ist ein Türöffner für Abenteuer. Ich fahre morgens los
und weiß nicht, was mich erwartet.“
Solch ein Schlüsselerlebnis hatte auch die Berlinerin Daniela Pensold (39), als sie vor sechs Jahren auf eine Fernradreise von Berlin nach Kopenhagen aufbrach. „Bis dahin war ich höchstens 20 Kilometer am Tag gefahren. Ich startete völlig blauäugig und konnte nicht mal einen Reifen wechseln. Unterwegs hatte ich drei Pannen, aber ich fand zum Glück immer jemanden, der mir half.“ Auf dieser Tour ist ihre Leidenschaft für das Reisen mit dem Rad gewachsen und mittlerweile zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. „Das Gefühl, 650 Kilometer mit meiner eigenen Muskelkraft zurückgelegt zu haben, hat mich unheimlich berauscht“, erinnert sie sich.
Auf ihrem Weg nach Dänemark verliebte Daniela sich nicht nur ins Radfahren, sondern auch in die Landschaften Brandenburgs, die sie heute an den Wochenenden so oft es geht ansteuert. Auf ihrem Blog wecyclebrandenburg erzählt sie von ihren Radgeschichten und Erlebnissen aus dem Berliner Umland. „Ich möchte mehr Menschen dazu ermutigen, die Region auf Tagesausflügen auf eigene Faust zu entdecken. Radfahren in Brandenburg ist nicht besonders anspruchsvoll, die Landschaft ist weitestgehend flach bis hügelig und es gibt ein gut ausgebautes Radwegenetz.“ Am meisten beeindruckt sie aber die Vielfalt, die sie gerne mit ihrer Kamera festhält: „Die Uckermark ist ganz anders als die Prignitz oder das Havelland. Meine Touren führen durch urwaldartige Wälder, vorbei an romantischen Tälern und Streuobstwiesen, restaurierten Feldsteinkirchen, alten Wassertürmen und verfallenen Fabrikgeländen“, sagt sie. Ab und an veranstaltet Daniela auch Gruppenradtouren mit acht bis zehn Teilnehmern. Sie legt die Tagesroute fest, sucht Zugverbindungen zum Startpunkt heraus und plant Zwischenstopps bei Hofläden, Imkern, Obstbauern oder in einem Atelier ein: „Es erweitert den eigenen Horizont ungemein, wenn man sich Zeit nimmt, die Menschen hier kennenzulernen“, sagt sie. Die Teilnahme ist kostenlos, die Plätze sind innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.
Luft auf den Reifen
Dass das Radfahren für immer mehr Menschen eine beliebte Freizeitbeschäftigung ist, freut Daniela. Dem Wetteifer des Handels um neueste Modelle und hochpreisiges Zubehör steht sie jedoch gelassen gegenüber: Sie fährt im Alltag ein in die Jahre gekommenes Vintage-Herrenrad und findet: „Die Freude am Fahren hängt nicht vom Rad ab. Hauptsache, es hat Luft auf den Reifen. Man lässt sich schnell einschüchtern von einem perfekten Fahrrad und teurer Ausrüstung. Aber man muss kein ausgestatteter Tourenradler sein, um schöne Erlebnisse auf dem Rad zu haben. Wenn ich von meinen Ausflügen nach Hause komme, habe ich viel gelernt und fühle mich mit all meinen Sinnen befriedigt“, erzählt sie.
Für den Hamburger Fahrradberater und Betriebssportweltmeister im Straßenradsport Philip Kaczmarowski (37) ist das Fahrrad ein Türöffner für Abenteuer. Als er das Gefühl hatte, beruflich in einem Hamsterrad zu stecken, nahm er sich eine Auszeit und plante eine Radreise von Istanbul nach Hamburg. „Ich wollte ausprobieren, wie es ist, allein unterwegs zu sein und auf dem Fahrrad andere Länder und Kulturen kennenzulernen“, erzählt er.
Jeder Tag auf dieser Reise war eine Fahrt ins Ungewisse: Nach dem Frühstück setzte sich der Ingenieur auf sein Rad, ohne zu wissen, was ihn als Nächstes erwartet. „Einmal startete ich morgens bei 30 Grad in Griechenland und landete bei Minus zehn Grad und Schneetreiben in Nordmazedonien“, sagt Philip Kaczmarowski. Die Eindrücke seiner Reise begleiten ihn bis heute: „Ich bin dadurch unheimlich offen für Veränderungen geworden. Ich habe keine Angst vor Neuem und weiß: Egal, was kommt, ich finde auf jeden Fall eine Lösung.“
Eine kleine Veränderung
Wie wir uns fortbewegen, bewegt etwas in uns. Der isländische Philosophieprofessor Robert H. Haraldsson wagte ein Experiment und tauschte sein Auto gegen ein Fahrrad ein. In einem Essay in Die Philosophie des Radfahrens schreibt er: „Fast immer komme ich klarer, um nicht zu sagen mutiger bei der Arbeit an. Auf dem Heimweg bin ich in der Lage, mich zu entspannen, wenn ich einen stressigen Tag hatte. Was ich aber neben den vielen Gedanken am meisten am Pendeln mit dem Rad mag, ist die Zeit, die ich draußen verbringe – im Angesicht der Elemente. Ich hatte völlig vergessen, wie viel Zeit ich als Kind draußen verbracht hatte und wie langsam und fast unmerklich ich zu einem Menschen wurde, der die meiste Zeit drinnen verbringt, als ein sesshafter Mensch, eine Art Möbelstück. Endlich nahm ich meinen Monolog mit den Sternen und dem Ozean wieder auf. Und ich habe wiederentdeckt, dass ich diese Erde, oder zumindest einen kleinen Teil davon, mit anderen Lebewesen teile, insbesondere mit Insekten, aber auch Vögeln, und hin und wieder werde ich von einer Robbe aus sicherer Entfernung betrachtet. Es ist albern, diese Dinge zu vergessen, aber man tut es; so wie man vergisst, wie veränderlich und vielfältig das Wetter ist.“
Eigentlich ging es Haraldsson vor allem darum, seine These zu bekräftigen. Immer wieder führte er mit seinen Kollegen an der Universität Diskussionen darüber, ob man in Reykjavík – in einem Umfeld, in dem sich das Wetter ständig gegen Radfahrer richtet und wo es kaum Radwege gibt – wirklich alles auf zwei Rädern erreichen kann. Nach einer Weile jedoch entdeckte Haraldsson auf dem Sattel eine neue Art des Denkens und der Wahrnehmung. Und genau das ist seine Botschaft: Bereits eine einfache, kleine Veränderung – nämlich die Art und Weise, wie wir von A nach B kommen – reicht manchmal aus, um zufriedener zu sein.
Wie recht Haraldsson hat, denke ich, als ich mit dem Fahrrad in meine Straße einbiege. Die Nachmittagssonne steht schon tief über meinem Viertel, und ich schaue für einen Moment zufrieden hinauf zu meiner Wohnung – dankbar für diese kleine Veränderung in einer so besonderen Zeit.
Text: Sarah Klüß, Illustrationen: Sharon Montgomery by Advocate Art