Wellbeing

Aus dem Bauch heraus

Der Darm ist verantwortlich für die Verdauung. Aber er beeinflusst auch, wie wir uns fühlen, ob wir ängstlich oder mutig sind, fröhlich oder traurig. Und auch andersherum geht es unserem Bauch dann am besten, wenn es uns gut geht

Jetzt mal ehrlich, der eigene Verdauungstrakt war bisher nicht unbedingt ein Thema, über das man sich beim ­Kaffeetrinken mit einer Freundin unterhält. Irgendwie unappetitlich das Ganze. Doch wenn man sich Supermarktregale, Werbeplakate und Bestsellerlisten anschaut, scheint es da einen Wandel zu geben. 

Illustrationen: Eli Martínez @elimartinez.studio

Überall finden sich neue Produkte und Bücher, die uns helfen wollen, unsere Darmgesundheit wieder in Schwung zu bringen und unser Wohlbefinden zu steigern. Auch im eigenen Umfeld scheint die Zurückhaltung diesem Thema gegenüber immer mehr zu schwinden. Eine Freundin war erst kürzlich bei einer Darmreinigung und eine Kollegin erzählt, dass ihre Psychotherapeutin ihr empfohlen habe, ihre Verdauung näher zu betrachten, um ihre mentale Gesundheit zu stärken. Ist der Darm wirklich Spiegel unserer Psyche und umgekehrt? Nun gilt es mittlerweile durchaus als erwiesen, dass ein gesunder Verdauungsapparat und ein gesunder Körper unmittelbar zusammenhängen. Aber lässt sich das auch auf einen gesunden Geist übertragen?

Im steten Austausch

„Unser Verdauungstrakt funktioniert ähnlich wie das Gehirn“, sagt der Neurogastroenterologe Thomas Frieling, der mit dem Psychologen Paul Enck und dem Humanbiologen Michael Schemann das Buch Darm an Hirn! geschrieben hat. Das Bauchhirn verfügt demnach nicht nur über dieselben Strukturen, es benutzt sogar dieselben Botenstoffe wie zum Beispiel das Glückshormon Serotonin. Manchmal aber sind die Botschaften, die Hirn und Darm miteinander austauschen, fehlerhaft und führen zu Schmerzen oder auch Missempfinden. „Verstünde man all das besser, könnten wir Störungen wie das Reizdarmsyndrom schon heute korrigieren“, so Thomas Frieling. Doch selbst das, was wir schon jetzt wissen, sei erstaunlich: „Unser Bauch denkt auf seine Weise, er erinnert sich. Und er kommuniziert mit dem Rest des Körpers.“

„Es kann wirkungsvoller sein, sich in Achtsamkeit zu üben,
als Probiotika zu sich zu nehmen.“

Um diesem Informationsaustausch noch genauer auf den Grund zu gehen, verglich ein internationales Forschungsteam die Darmflora von Patienten mit diagnostizierter ­Depression mit der von gesunden Menschen. Dabei zeigte sich, dass bei den mental gesunden Menschen bestimmte Keime deutlich häufiger vertreten waren als bei der an ­Depression leidenden Vergleichsgruppe. Die Zahlen näherten sich erst dann wieder an, nachdem die Depressiven mit Antidepressiva behandelt worden waren. Die rund 100 Billionen Bakterien unserer Darmflora haben also tatsächlich etwas mit unserem Gemütszustand zu tun. Dieses Ergebnis kommt einer kleinen Sensation gleich. Zwar wird schon seit Längerem eine Beziehung zwischen einer ­gestörten Darmflora und Krankheiten wie Depressionen oder sogar Autismus vermutet, doch so genau wie in dieser Studie konnten die Zusammenhänge bislang noch nicht nachgewiesen werden. Nur eins verrät das Ergebnis noch nicht: Ob sich zuerst die Darmflora verändert und dies die Erkrankung auslöst oder ob die Erkrankung dazu führt, dass die Darmflora gestört ist.

 

Altes Heilmittel

Dass Darmbeschwerden mit der Stimmung zusammenhängen können, hat auch Jennifer Färber entdeckt. ­Nachdem ein Arzt bei ihr während des Studiums eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert hatte, beschäftigte sie sich intensiv mit ihrem Körper. Vor allem mit ihrem Darm. „Ich habe ­lange überlegt, was ich tun kann, damit es mir wirklich besser geht“, sagt sie. Darauf zu achten, welche Lebensmittel sie isst und wann, half ihr sehr, so Jennifer. „Nach meiner Ernährungsumstellung habe ich mich viel klarer ­gefühlt, fokussierter. Irgendwie wie angeschaltet und ins­gesamt glücklicher.“ Dabei entdeckte Jennifer ein ganz ­eigenes Mittel, das ihrer Gesundheit bis heute guttut: Kombucha. Ein Getränk aus fermentiertem Tee. Kombucha war schon immer Teil ihrer Familientradition: Ihre Großmutter braute ihn selbst. „Das Getränk kommt aus Asien und wurde auch im angrenzenden Russland bekannt“, sagt ­Jennifer. Und dort wuchs ihre Großmutter auf. „Für mich war es aber lange nichts weiter als eine leckere Erfrischung.“ Erst als Jennifers Darmbeschwerden zunahmen und sie ihre Ernährung genauer unter die Lupe nahm, merkte sie, wie gut Kombucha ihrem allgemeinen Wohlbefinden tat. Seitdem schwört sie darauf: „Er ist einfach gut für mein Bauchgefühl.“ Um diese Erkenntnis auch mit ­anderen zu teilen, gründete sie vor drei Jahren ihr eigenes Start-up in Hamburg: Rho Kombucha. Ihr Getränk kann man jetzt in ganz Deutschland kaufen.

Wagemutige Mäuse

Das Gesunde an speziell eingelegten Lebensmitteln wie Kombucha sind die Milchsäurebakterien. Diese halten nicht nur den Darm fit, sie unterstützen auch die Verdauung und stärken den ganzen Verdauungstrakt. Einige ­Wissenschaftler sind sogar davon überzeugt, dass solche Probiotika Einfluss auf unsere Gefühlswelt nehmen können. 2013 veröffentlichte der Gastroenterologe und Neu­rowissenschaftler Emeran Mayer an der University of ­California in Los Angeles eine Studie, die zumindest nahelegt, dass an dieser These etwas dran sein könnte: Der Wissenschaftler ließ Frauen vier Wochen lang regelmäßig probiotischen Joghurt essen. Dabei zeigte sich, dass bei ihnen bestimmte Hirnregionen schwächer auf negative Reize reagierten als bei Versuchspersonen, die nur normalen Joghurt gegessen oder sich wie bisher ernährt hatten.

In einem anderen Experiment verabreichten Forscher einer ängstlichen Rasse von Mäusen Antibiotika, die ihre Darmflora durcheinanderbrachten. Daraufhin verhielten sich die Tiere plötzlich wagemutig und unternehmungslustig. Mehr noch: Bekamen die Mäuse vor Stresssituationen wiede­-rum ­bestimmte darmfreundliche Probiotika gefüttert, schütteten sie beim Versuch, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, weniger Stresshormone aus als ohne die hilfreichen Mikroorganismen. „Es gibt einige Probiotika, die ­tatsächlich eine Wirkung erzielen, manche sogar auf die Stimmung“, sagt Emeran Mayer heute über seine Forschung. „Das gilt allerdings nicht für die Darmprodukte, die wir aus dem Supermarkt kennen. Etwa 90 Prozent davon beruhen auf keiner wissenschaftlichen Grundlage.“ Mayer ist überzeugt, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird. „In 20 Jahren kann man vielleicht individuell ­zugeschnittene Darmbakterien verteilen, die Schwachpunkte im eigenen System reparieren.“ Aber so weit ist die Forschung noch nicht. Anwendungen wie Darmsanierungen lehnt er deshalb als unwirksam ab.

Bakterien pflegen

Nun lassen sich Experimente an Mäusen natürlich nicht ­direkt auf uns Menschen übertragen. Dennoch kann man aus den bisherigen Erkenntnissen eine zentrale Aussage herausfiltern: Was unserer Darmgesundheit und auch unserer Psyche nachgewiesenermaßen hilft, sind die Dinge, die wir selbst am besten beeinflussen können. Das sagt auch Emeran Mayer: „Letztlich brauchen wir in der Regel keine teuren Darmprodukte, wenn wir uns ausreichend ­bewegen, gesund und vielfältig ernähren und Stressfaktoren reduzieren.“ Am gesündesten sei der Darm, wenn ihn viele verschiedene Mikrobenarten besiedeln. Je nachdem, was wir essen, pflegen wir bestimmte Bakterien. Und jede verdaut gerne etwas anderes. „Wer viele verschiedene Bakterien möchte, der sollte viele verschiedene Sorten Obst und Gemüse essen. Also ballaststoffreiche Nahrungsmittel – denn nur die schaffen es überhaupt in den Dickdarm“, so Mayer. Denn dort sitzen die meisten Mikroben. Mayer empfiehlt mediterrane Kost. Und weniger Stress: „Es kann deutlich wirkungsvoller sein, Achtsamkeitstechniken zu lernen, als Probiotika zu schlucken. Denn ist der Körper permanent im Stressmodus, helfen auch die beste Ernährung, die teuersten Pillen oder Sport nichts mehr.“

„Wir selbst können am besten spüren, was gut für uns ist.“

Das hat Nadine Hüttenrauch am eigenen Körper erfahren. Noch vor wenigen Jahren arbeitete sie als Unternehmensberaterin, war ständig unterwegs. An einigen Abenden ­waren Erdnüsse aus der Hotelbar ihr Abendessen. „Ich war ständig gestresst“, sagt Nadine heute. Immer deutlicher merkte sie damals, wie schlecht es ihr ging. „Ich musste aufstoßen, hatte Bauchkrämpfe, fühlte mich schlapp.“ ­Nadine beschloss: So geht es nicht weiter. Sie stellte ihre Ernährung um, erst auf vegetarisch, dann ließ sie auch die meisten Milchprodukte weg, verzichtete auf Gluten und ­reduzierte Kohlenhydrate. „Mir ging es viel besser. Nicht nur meinem Bauch. Sondern auch meiner Seele.“ Doch ­irgendwann kippte das Gefühl. „Ich hatte mir so viele ­Regeln ums Essen aufgebaut, dass es kaum noch Lebensmittel gab, die mir gefühlt kein Unwohlsein bescherten“, erzählt Nadine. „Ich verlor völlig die Freude am Essen.“

„Wir wissen mittlerweile, dass das Bauchhirn genau wie unser Kopf die Voraussetzungen für Lernprozesse hat und sich konditionieren lässt“, sagt Neurogastroenterologe Thomas Frieling. Natürlich gebe es Allergien und Unverträglichkeiten. „Es kann aber auch sein, dass man ­bestimmte Lebensmittel mit unangenehmen Situationen verbindet und der Körper deshalb reagiert. Die Unverträglichkeit ist dann nicht durch das Nahrungsmittel selbst, ­sondern durch die Konditionierung bedingt. Unverträglichkeiten können also gelernt werden.“ Was hilft? „Man muss solche Erinnerungen tatsächlich bewusst überschreiben, unter anderem durch die Kopplung mit angenehmen Situationen“, sagt Thomas Frieling.

Achtsam essen

Nadine Hüttenrauch beschloss, genau das zu tun und alle Regeln fallen zu lassen. Seitdem isst sie vor allem das, was sie glücklich macht: „Wir selbst können am besten spüren, was uns guttut.“ Heute arbeitet sie als Beraterin für achtsame Ernährung. Im Beruf lehrt sie das, was sie für sich selbst, durch eigene Erfahrung und eine Weiterbildung gelernt hat. Wer achtsam essen möchte, solle sich sechs Fragen stellen, sagt Nadine: Was esse ich, wie viel, wie, wann, warum, und woher kommen die Lebensmittel? Es geht also nicht nur darum zu überlegen, was man isst. Sondern sich auch zu fragen: Wie viel brauche ich wirklich? „Beim achtsamen Essen spüre ich das. Ich esse bewusst und höre auf, wenn ich genug habe“, sagt Nadine. Auch die Frage, warum wir gerade etwas essen möchten, sei wichtig. „Manchmal versuchen wir, andere Bedürfnisse mit Essen zu verdecken“, sagt sie. „Brauche ich gerade Schokolade oder eigentlich ein bisschen Zuneigung?“ Wer mit dem achtsamen Essen anfangen möchte, dem rät ­Nadine, es langsam anzugehen. „Anfangs reicht es schon, die ersten zwei, drei Bissen einer Mahlzeit bewusst zu ­genießen. Dann steigert man sich langsam.“

Psyche, Immunsystem und Krankheiten: Es ist nicht nur erstaunlich, was unser Darm alles mitregelt, sondern auch, wie wenig eigentlich über all diese Zusammen- hänge bekannt ist. Wenn man von bestimmten Darm- erkrankungen absieht, spielt unser Verdauungstrakt bislang weder in der durchschnittlichen Hausarztpraxis noch in Psychothera­pien eine Rolle, wenn es um die Diagnose von Krankheiten und deren Behandlung geht. Vielleicht können wir ihn ja wenigstens mit einer aus- gewogenen Ernährung und etwas Achtsamkeit bei seiner täglichen Arbeit unterstützen.

Text: Jana Luck, Yvonne Adamek, Illustrationen: Eli Martínez @elimartinez.studio