Achtsamkeit für jeden Tag
Aus Schwächen Stärken machen
Stärken und Erfolge nähren unseren Selbstwert und wir zeigen sie gern. Schwächen hingegen würden wir lieber unter den Tisch fallen lassen. Dr. Boris Bornemann erklärt, wie wir uns mit ihnen aussöhnen und sie sogar positiv sehen können
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Warum nehmen wir eine Eigenschaft als Schwäche wahr?
Das geschieht meist dann, wenn uns eine Eigenschaft in einem bestimmten Kontext als hinderlich erscheint. Die Schwäche kann sich auf unsere Fähigkeiten beziehen: Wir können zum Beispiel nicht schwimmen oder haben Schwierigkeiten beim Kopfrechnen. Sie kann sich aber auch auf unseren Charakter oder unser Gemüt beziehen: Wir können nur schwer Nein sagen, sind schnell gereizt oder können uns nicht gut entscheiden. Meist empfinden wir die Eigenschaft nur dann als Schwäche, wenn sie Leid erzeugt – für uns oder andere. Zum Beispiel fühlen wir uns als Nichtschwimmer im Badeurlaub außen vor. Oder andere sind genervt, weil wir unsere Entscheidungen oft mehrfach ändern, und sie sich nicht auf uns verlassen können.
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Wie stark ist diese Wahrnehmung von den Normen und Werten unserer Gesellschaft geprägt?
Gesellschaftliche Werte und Normen bestimmen stark darüber, welche meiner Eigenschaften ich kritisch betrachte. In asiatischen Gesellschaften werden zum Beispiel Zurückhaltung und Bescheidenheit höher geschätzt als im Westen, wie eine Studie von Chen-Bo Zhong und anderen zeigt. In westlichen Gesellschaften wird die Zurückhaltung leicht falsch ausgelegt: Die Person ist verschüchtert oder hat nichts zu sagen. Außerdem gelten auch für Männer und Frauen oft unterschiedliche Maßstäbe.
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Wie kann es mit Achtsamkeit gelingen, uns von diesen Normen nicht so abhängig zu machen?
Achtsamkeit kann uns helfen, uns und andere weniger zu bewerten. Wir spüren den Körper. Wir nehmen wahr, wie wir uns fühlen. Wir lernen, weniger in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ zu denken, sondern eher zu fragen: Wie entsteht Leid, wie entsteht Wohlergehen – bei mir und anderen? Wir stempeln uns und andere dadurch nicht ab, sondern fragen eher, wie wir zusammenwirken können, damit es uns gut geht. Wenn etwas misslingt, üben wir uns darin, mitfühlend und konstruktiv mit der Situation umzugehen. Wir wissen: Sich selbst zu schelten ist wenig hilfreich. Eher schenken wir uns Trost und neue Motivation.
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Warum definieren wir uns so stark über unsere Stärken und Schwächen? Was könnte eine Alternative sein?
Wir leben, grob gesagt, in einer individualistischen, kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Sie legt nahe, uns selbst wie ein Produkt zu betrachten: Ich möchte möglichst nützlich, fehlerfrei, einsetzbar, ansehnlich und so weiter sein. Wir können dem entkommen, indem wir uns selbst eher über unsere Motivationen definieren. Wie gehe ich auf die Welt zu? Wünsche ich, etwas Gutes hervorzubringen? Handle ich liebevoll und aus dem Herzen? Ein große australische Studie zeigt: Menschen, die etwas tun, weil es ihren Werten entspricht und Freude macht, sind zufriedener und haben mehr Durchhaltevermögen als solche, die nur äußeren Maßstäben genügen wollen. Aus guten Absichten zu handeln ist wichtiger, als fehlerfrei oder der oder die Beste zu sein.
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Kann eine Schwäche eigentlich auch eine Stärke sein?
Ob eine Eigenschaft eine Stärke oder eine Schwäche ist, hängt immer von der Situation und der Umgebung ab. Denken wir etwa an eine Person, die sehr sensibel ist. Vielleicht ist sie in lauten Umgebungen schnell überfordert und wenig handlungsfähig. In einem einfühlsamen Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin oder in der Rolle als Psychotherapeut:in ist ihre Sensibilität hingegen äußerst hilfreich. Genauso kann eine Person, die dazu neigt, immer die Schwierigkeiten und Probleme zu sehen, uns manchmal auf die Nerven gehen. Aber wenn es darum geht, einen guten und sicheren Plan zu machen, ist ihr kritischer Geist sehr wertvoll. Jede Eigenschaft hat einen Platz, in dem sie als Schwäche wirkt, und einen, an dem sie zur Blüte kommt.
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Wie kann ich mein eigenes Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten stärken?
Du kannst dir die Frage stellen: „Was ist mir in meinem Leben gut gelungen?“ Und dann überlegen, welche Fähigkeiten dir dazu verholfen haben. Für diese Übung kannst du dich entweder hinsetzen oder hinlegen und die Bilder, Gedanken und Gefühle kommen lassen. Oder du schreibst auf, was dir in den Sinn kommt. Alternativ könntest du auch über diese Frage meditieren: „Was kann ich gut?“ Und schließlich könntest du auch folgende Frage nutzen: „Was mag ich an mir?“ Bei dieser Frage geht es weniger um Fähigkeiten als um dein Wesen: Was an dir findest du liebenswert und schön?
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Wie kann es mir gelingen, meine Schwächen nicht nur zu akzeptieren, sondern eben tatsächlich in Stärken umzuwandeln?
Es kommt meist darauf an, uns ein Umfeld zu suchen, in dem unsere Veranlagungen vorteilhaft sind. Impulsivität kann zu unüberlegten Entscheidungen führen – aber für künstlerische Tätigkeiten ist es oft zentral, starke Impulse zu haben. Jemand, der sich in Details verliert, kann als unproduktiv wahrgenommen werden. Aber für Tätigkeiten wie Programmierung oder im Ingenieurwesen kann die Liebe zur Genauigkeit ein großer Vorteil sein. Die größte Stärke, die wir entwickeln können, besteht darin, liebevoll auf uns selbst zu schauen. Wir alle scheitern gelegentlich. Einige Dinge liegen uns nicht. Das ist in Ordnung. Es gibt trotzdem Tausende Wege für uns, ein gutes und glückliches Leben zu führen.
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