Achtsamkeit für jeden Tag

Bitte recht freundlich

Die Voraussetzung für ein gutes Miteinander ist ein warmherziger Umgang mit anderen. Wie Achtsamkeit und Meditation dabei helfen können, sagt Boris Bornemann

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Werde ich automatisch netter, wenn ich mich in Achtsamkeit übe?

Eine britische Übersichtsarbeit, in der Ergebnisse von 21 Studien zusammengefasst wurden, kommt zu dem Schluss: Menschen, die regelmäßig meditieren, verhalten sich eher altruistisch. Sie bieten zum Beispiel anderen häufiger ihre Hilfe an und spenden mehr Geld an Wohltätigkeitsorganisationen. Und das nicht nur, weil Meditierende immer nette Ökohippies sind. Es gibt also tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Meditation und freundlichem Verhalten

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Wie kommt es, dass ich zu anderen freundlicher werde, wenn ich meditiere?

Dafür gibt es verschiedene Gründe: Zum einen kann Meditation positive Gefühle befördern. Zahlreiche Studien zeigen, dass zufriedene Menschen anderen gegenüber hilfsbereiter sind. Außerdem macht das Meditieren uns feinfühliger und aufmerksamer. Wir nehmen leichter wahr, was wir selbst fühlen und brauchen – und erkennen das so auch leichter in anderen. Und schließlich wird in einigen Meditationsformen ganz bewusst eine liebevolle, mitfühlende Haltung kultiviert. Wir machen uns klar, dass wir alle verletzliche Wesen sind. Wir fokussieren uns auf den Wunsch, dass wir und andere glücklich sein mögen und möglichst wenig leiden.

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Was bedeutet es eigentlich konkret, freundlich zu jemandem zu sein?

Es bedeutet, so zu handeln, dass es das Glück und Wohlergehen der betreffenden Person befördert. Das beginnt damit, dass wir ihr Aufmerksamkeit schenken und ihr erlauben, so zu sein, wie sie ist. Wir können andere ermutigen, sich zu zeigen und auszudrücken, indem wir ihnen zulächeln oder ihnen Komplimente machen. Tatkräftig drücken wir unsere Freundlichkeit aus, wenn wir anderen unsere Zeit schenken und ihnen bei etwas helfen. Sei es, indem wir den Kleiderschrank mit ihnen zusammen aufbauen oder Beziehungsprobleme mit ihnen besprechen. Manchmal kann es auch freundlich sein, deutliche Worte zu sprechen oder jemanden wachzurütteln, wenn wir merken, dass er oder sie sich mit dem eigenen Verhalten nicht gut tut.

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Was kann es in mir auslösen, wenn ich freundlicher mit anderen umgehe?

Biologisch betrachtet entspringt Freundlichkeit unserem sogenannten Fürsorgesystem. Dazu gehören etwa das Bindungshormon Oxytozin sowie der Vagusnerv. Wenn das Fürsorgesystem aktiv ist, fühlt sich das warm an. Wir fühlen uns anderen nah und vertraut. Das ist angenehm und hat positive Effekte auf die Gesundheit. So zeigen zahlreiche Studien, dass Menschen mit höherer Vagusnerv-Aktivität seltener am Herzen erkranken. Wer freundlich ist, hat außerdem in der Regel bessere soziale Beziehungen. Gute Beziehungen wiederum sind, so zeigt es eine Studie aus Harvard, die wichtigste Voraussetzung für ein langes und glückliches Leben.

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Bedeutet ein achtsamer, altruistischer Umgang mit anderen, dass ich mich nicht mehr streiten darf? Oder sollte ich nur lernen, anders zu streiten?

Meinungsverschiedenheiten sind unvermeidlich. Um in einer Auseinandersetzung freundlich und konstruktiv zu sein, sind zwei Dinge nötig: Zum einen ist es wichtig, den eigenen Standpunkt zu vertreten. Zum anderen geht es darum, dem anderen mit einem offenen Geist und einem weiten Herzen zu begegnen. Ein offener Geist bedeutet: Wir erkennen an, dass wir uns in unserer Ansicht täuschen können. Dass wir möglicherweise Dinge übersehen, aber bereit sind dazuzulernen. Ein weites Herz bedeutet, dem anderen mit Wohlwollen und Respekt zu begegnen. Beide Seiten akzeptieren, dass sie vorübergehend anderer Meinung sind. Wir müssen die Ansichten einer anderen Person nicht teilen, um ihr zu wünschen, dass es ihr gut gehen möge.

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Wie bleibe ich freundlich, selbst wenn es meinem Gegenüber nicht gelingt?

Wir können uns vor konflikthaften Gesprächen in einer Meditation auf die Grundhaltung von Freundlichkeit besinnen. Das geht zum Beispiel, indem wir Sätze wiederholen, die diese Haltung ausdrücken, wie etwa: „Mögen wir glücklich sein.“ Während eines Gesprächs können wir uns an diese Sätze erinnern. Diese Haltung kann auf das Gegenüber sehr entwaffnend wirken. Denn auch wenn wir in der zu verhandelnden Sache klar und deutlich, vielleicht sogar hart sind, spürt der andere doch, dass wir grundsätzlich wohlwollend sind. Auf Basis dieses Wohlwollens kann über die Sache zielführender gesprochen werden. Und uns selbst geht es so besser.

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Kann es passieren, dass man mich ausnutzt, weil ich zu freundlich und harmlos wirke?

Wenn jemand versucht, uns auszunutzen, uns beleidigt oder andere unfair behandelt, sollten wir entschieden einschreiten. Dafür hilft es, die eigenen Werte und Bedürfnisse klar zu kennen. Diese lassen sich zum Beispiel erkunden, indem wir uns fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Wir können uns auch fragen: Würde ich es zulassen, dass ein guter Freund so behandelt wird, wie ich mich gerade behandeln lasse? Wir können entschieden in der Sache und zugleich freundlich im Ton bleiben. Wir können uns auch klarmachen, dass es nicht nur für uns selbst wichtig ist, dass wir eine Grenze ziehen, sondern am Ende für alle Beteiligten. Denn wenn wir uns ausnutzen lassen, billigen und normalisieren wir problematisches Verhalten. Der Aggressor wird später vielleicht auf ähnliche Weise anderen Menschen schaden. Und oft schadet er langfristig auch sich selbst.

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Ist Freundlichkeit ansteckend?

Wir reagieren ganz automatisch auf freundliche Gesten. Wenn wir mit einem Baby Späße machen oder in einem warmherzigen Tonfall reden, reagiert es mit Lächeln oder Lachen. Unsere Sensoren dafür, ob es jemand gut mit uns meint, sind von Geburt an sehr fein eingestellt. Wenn es gelingt, die Bedürfnisse der Personen um uns herum zu lesen und zu achten, sind diese dazu geneigt, auch uns etwas Gutes zu tun. So können positive Kreisläufe der Freundlichkeit entstehen. Es ist wahrscheinlich sowohl für uns selbst als auch für die Gesellschaft eine lohnende Aufgabe zu verstehen, wie diese Kreisläufe entstehen und was sie zusammenbrechen lässt. Und es ist sicher klug, bei uns selbst zu beginnen: zu erkunden, wie Freundlichkeit sich für uns anfühlt und wie wir sie kultivieren können.

Foto: Plainpicture