Achtsamkeit für jeden Tag

Ein guter Draht zu den Eltern

Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist bei vielen Menschen kompliziert. Aber mit Achtsamkeit kann es gelingen, einander besser zu verstehen, weiß Dr. Boris Bornemann

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Was macht eine gute Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern aus?

Wie in allen engen Beziehungen zwischen Erwachsenen geht es auch in Familien darum, Liebe und Wärme zu spüren. Wir sind am Wohlergehen der anderen interessiert und schenken einander Zeit. Wir respektieren aber auch die gegenseitigen Grenzen, indem wir zum Beispiel nicht ungefragt Ratschläge geben. Darin unterscheidet sich eine erwachsene Eltern-Kind-Beziehung kaum von Freundschaften.

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Warum ist diese besondere Beziehung eigentlich oft so kompliziert?

Aus verschiedenen Gründen ist die Beziehung doch anders als eine Freundschaft. Denn im Hintergrund steht eine Geschichte voller Wandlungen: Zu Anfang waren wir vollkommen abhängig von den Eltern. Sie haben uns versorgt und wir haben uns an ihnen orientiert. Mittlerweile treffen wir eigene Entscheidungen, verdienen eigenes Geld. Aber sind wir auch innerlich selbstständig geworden – oder weiterhin abhängig von ihrem Urteil? Lassen wir als Eltern unsere Kinder sein, wie sie sind – oder wollen wir weiterhin über ihre Leben bestimmen? In letzterem Fall kommt es zu Problemen. Dazu kommt manchmal, dass wir verletzt oder enttäuscht wurden. In einer so engen und langen Beziehung gibt es eben auch viel, was schiefgehen kann.

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Warum fällt es so schwer, sich gegenseitig außerhalb der gewohnten Rollen wahrzunehmen?

Eltern und Kinder teilen viele prägende Erfahrungen, in denen lange eine Abhängigkeit der Kinder auf der einen und Verantwortung der Eltern auf der anderen Seite vorherrschten. Dieses Verhältnis ändert sich über die Jahre zunehmend. Manchmal können die Gefühle damit nicht Schritt halten. Wir verharren in alten Mustern. Es kann helfen, sich immer wieder zu verdeutlichen: „Ich bin ein freier, erwachsener Mensch und darf für mich selbst entscheiden.“ Oder auch: „Ich liebe mein Kind. Ich möchte das Beste für sie oder ihn. Aber mein Kind gestaltet sein Leben jetzt nach den eigenen Vorstellungen.“ Es hilft außerdem, nachsichtig und humorvoll mit Situationen umzugehen, in denen wir in alte Rollen verfallen.

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Was können Eltern tun, um die Beziehung zu ihren Kindern zu verbessern?

Manchmal glauben sie, ihr Kind gut zu kennen – auch wenn sie es schon lange nur noch sporadisch sehen. Das stimmt jedoch oft nur begrenzt. Es ist daher gut, wenn Eltern viele Fragen stellen, zuhören und so erfahren: Was ist dem erwachsenen Kind wichtig? Was ist schwierig? Worüber freut es sich? Es ist schön, am Leben des Kindes teilzuhaben. Insbesondere sollten Eltern anerkennen und loben, was es erreicht hat. Denn der tiefe Wunsch danach, von den Eltern geliebt und anerkannt zu sein, bleibt auch im Erwachsenenalter meist bestehen. Kinder, die sich gesehen fühlen, werden lieber den Kontakt suchen. Eltern sollten außerdem ehrlich honorieren, dass das Kind von einigem mehr versteht als sie – was dessen eigenes Leben angeht, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche und technische Entwicklungen.

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Und was können Eltern umgekehrt von den Kindern erwarten?

Auch wenn in der Kindheit nicht alles schön war, gibt es viele Gründe, um den Eltern dankbar zu sein. Sie haben einem das Leben geschenkt und viel Zeit und Energie darauf verwendet, uns zu ernähren und großzuziehen. Vielleicht erinnern wir uns an einzelne Dinge, die toll waren? Abendliches Vorlesen, Tobestunde mit Papa, liebevolle Umarmungen. Wir können uns klarmachen, wofür wir dankbar sind – und das bei passender Gelegenheit auch äußern. Kinder idealisieren ihre Eltern, Pubertierende kritisieren sie, grenzen sich ab. Als Erwachsene sollten wir eine ausgewogene Perspektive finden und die Eltern mitfühlend und wohlwollend als Menschen mit Stärken und Schwächen betrachten. In einigen Fällen wäre es zu viel verlangt, dass sich alle gut verstehen, etwa, wenn es Missbrauch gegeben hat. Dann müssen Kinder manchmal den Kontakt abbrechen, um sich zu schützen.

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Wie kann Achtsamkeit dabei helfen, eine gute Beziehung zu etablieren und zu behalten?

Achtsam zu sein bedeutet: gegenwärtig zu sein, mit Herz und Geist. Durchs Meditieren können wir dies einüben: Wir spüren den Körper und den Atem, nehmen Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse wahr. So bemerken wir leichter, wenn wir in alte Muster verfallen und uns sagen: „Ich lasse über mich bestimmen und urteilen. Das tut mir nicht gut. Ich sollte meinen Vater unterbrechen und ihn darauf hinweisen.“ Oder: „Ich texte mein Kind zu und erkläre ihm die Welt. Ich sollte lieber eine Frage stellen und zuhören.“ Wer gegenwärtig ist, kann sich selbst und die andere Person eher so sehen, wie sie wirklich gerade ist – und nicht nur, wie sie früher einmal war.

Foto: Adoby Stock / Natalia