Achtsamkeit für jeden Tag

Gut genug statt perfekt

Alles besonders gewissenhaft erledigen zu wollen, kann bei Zeiten ganz schön stressig sein. Wie wir loslassen und mehr zu uns selbst finden können, sagt Boris Bornemann

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Was kann daran schlecht sein, alles besonders gut machen zu wollen?

Studien zeigen, dass sehr perfektionistische Menschen anfälliger sind für Stress und erhöhten Blutdruck, aber auch Essstörungen und Depressionen. Sie setzen sich zu sehr unter Druck. Oft fokussieren sich Perfektionisten stark auf einen Bereich ihres Lebens, zum Beispiel die Arbeit. Dabei vernachlässigen sie andere Bereiche wie Freunde, Beziehung oder ihre emotionale Entwicklung.

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Was unterscheidet gesunden von ungesundem Perfektionismus?

Gesunder Perfektionismus findet sich bei Menschen, die sehr gewissenhaft sind – zu diesem Schluss kommt eine kanadische Studie. Sie wollen die Dinge so gut machen, wie sie eben können. Auch eine große Vision kann uns antreiben. Oder wir machen unsere Arbeit einfach wirklich gern. Ungesunder Perfektionismus findet sich hingegen bei Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl. Antrieb ist oft die Angst vor dem Scheitern. Vielleicht glaube ich, nur etwas wert zu sein, wenn ich etwas Besonderes leiste. Dann arbeite ich viel länger als nötig. Oder aber ich bin von vornherein blockiert. Sitze vor einem leeren Blatt. Gehe gar nichts an. Oft ist das Ziel so hoch gesteckt, dass alle meine Versuche ungenügend erscheinen.

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Wie entsteht ungesunder Perfektionismus?

Es gibt hier eine gesellschaftliche Dimension. Die Forschung zeigt, dass Perfektionismus über die letzten drei Jahrzehnte in westlichen Industrienationen zugenommen hat. Wir verlangen immer mehr von uns und glauben auch, andere würden mehr verlangen. Dabei spielen auch die hochpolierten Bilder und Selbstdarstellungen in sozialen Netzwerken sicher eine Rolle. Je mehr wir uns vergleichen und diese Darstellungen mit der Realität verwechseln, umso anfälliger werden wir für Minderwertigkeitsgefühle und angstgetriebenes Perfektionsstreben. Besonders gefährdet sind Menschen, bei denen in der Familie sehr viel Wert auf Leistung gelegt wurde. Vielleicht haben die Eltern es gut gemeint. Beim Kind kommt aber an: So wie du bist, reichst du nicht. Erst durch deine Leistung wirst du liebenswert.

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Wie gelingt es, den inneren Druck, alles perfekt ma­chen zu wollen, abzulegen?

Achtsamkeit kann helfen, sich selbst zu spüren und die eigenen Maßstäbe zu gestalten. Ganz zentral ist dabei zunächst die Erkenntnis: Objektive Perfektion gibt es nicht. Gut und schlecht, genügend und ungenügend sind unsere eigenen Wertungen. Wenn wir uns abrackern, um irgendeinem Anspruch zu genügen, können wir innehalten und uns fragen: Versuche ich bloß, jemandem zu gefallen? Und was halte ich denn selbst für gut, ausreichend und schön? Wir können bemerken, dass wir uns mit unseren Erwartungen oft selbst ein Gefängnis bauen. Und dass wir es sind, die die Mauern auch wieder einreißen und unser Wertegebäude neu errichten können. Wir werden uns unserer Freiheit bewusst und können verspielter mit Ansprüchen und Urteilen umgehen.

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Wie kann ich üben, die ständigen Über­legungen, noch besser werden zu wollen, am besten zu durchbrechen?

Betrachte einen Baum. Bevor du anfängst, ihn zu beurteilen als zu klein, zu groß oder zu krumm, kannst du ihn vielleicht sehen als das, was er ist: ein wunderbares, grünendes, einzigartiges Gewächs. Dann spüre deinen Körper. Bevor du anfängst, ihn zu bewerten als zu dick, zu alt oder zu schmerzhaft, kannst du vielleicht einfach spüren, was da ist: ein lebendiges Feld von Empfindungen. Dann bemerkst du, dass du denkst. Bevor du anfängst, die Geschichte deiner Gedanken zu glauben und für die Realität zu halten, kannst du die Gedanken vielleicht sehen als das, was sie sind: Bilder, die vor deinem inneren Auge flackern, erklingende Wortfetzen – die zugleich unsere Gefühle aufwallen lassen. Wenn wir so gegenwärtig sind, erscheint alles wunderbar vollkommen.

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Wie können perfektionistische Personen besser mit Fehlern umgehen?

Es kann helfen, sich mit dem Wert von Fehlern zu beschäftigen. Vom englischen Arzt und Sozialreformer Samuel Smiles stammt der schöne Satz: „Wer nie einen Fehler gemacht hat, hat auch noch nie etwas entdeckt.“ Und tatsächlich gehen viele Entdeckungen auf Zufälle und Fehler zurück: Zum Beispiel Penicillin, Teflon oder das Prinzip des Impfens. Wir wissen im Vorhinein nie wirklich, was aus unseren Handlungen wird. Wir können uns klarmachen, dass alle Menschen Dinge tun, die zumindest vorübergehend wie Fehler aussehen. Wir können sie nicht vermeiden, aber lernen, liebevoll, kreativ und vielleicht auch humorvoll damit umzugehen.

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Wie gelingt es, den Fokus neu zu setzen – weg von zeitraubenden Details hin zum großen Ganzen?

Manchmal ärgern wir uns, etwas getan zu haben, was nicht unseren Maßstäben entspricht. Das Gute: Es erinnert uns an unsere Werte. Aber manchmal kann so ein kleiner Fehler uns auch ganz schön aus der Bahn werfen. Um die wirkliche Tragweite zu verstehen, hilft es, sich zu fragen: „Wird das hier in fünf Jahren noch eine Rolle spielen?“ In dieser weiten Perspektive relativieren sich Fehler sehr schnell. Details werden weniger wichtig. Was zählt, ist das große Ganze. Es ist gut, das immer wieder in den Blick zu nehmen, indem wir uns bewusst fragen: „Was liegt mir wirklich am Herzen?“ Wenn wir unsere wichtigsten Werte kennen, leben wir gelassener. Anstatt nach dem illusorischen Perfekt zu suchen, können wir Aufgaben abschließen, wenn sie „gut genug“ sind oder „in die richtige Richtung führen“.

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Wie lerne ich anderen so zu vertrauen, dass ich Aufgaben abgeben kann – sowohl privat als auch beruflich?

Oft glauben wir, dass wir die Einzigen wären, die eine Aufgabe gut erledigen können. Das mag vorübergehend sogar zutreffen. Vielleicht hat die Kollegin einen bestimmten Arbeitsschritt noch nie ausgeführt. Oder der Partner hat das Kind noch nie für die Kita fertig gemacht. Aber seien wir ehrlich: Natürlich können auch sie das lernen. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, wie viel Unterstützung die andere Person sich wünscht. Und an welchen Stellen wir gerne die Arbeit der anderen Person überprüfen wollen. So können wir die Kontrolle schrittweise abgeben und Vertrauen aufbauen. Dabei sollten wir uns auch daran erinnern, dass unser eigener Weg, die Aufgabe zu erledigen, nicht der einzig richtige ist. Wir dürfen gespannt sein. Vielleicht können wir von der anderen Person sogar noch etwas lernen.

Foto: Unsplash, Sabine Timm