Achtsamkeit für jeden Tag

Gut für sich selbst sorgen

Um die Harmonie zu bewahren, sind wir viel zu oft bereit, einiges runterzuschlucken. Wie unsere eigenen Bedürfnisse nicht länger zu kurz kommen, sagt Boris Bornemann

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Wieso ist es uns oft so wichtig, andere glücklich zu machen?

Es ist in uns angelegt, uns um andere zu kümmern. Für andere zu sorgen, kann etwas sehr Schönes sein. Denn wenn wir uns kümmern,
werden belohnende Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet wie Dopamin
und Oxytocin. Manchmal tun wir aber auch etwas für andere, weil
wir Angst haben, sonst nicht mehr gemocht zu werden. Oder wir haben von klein auf gelernt, die Bedürfnisse anderer über unsere zu stellen.

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Was ist problematisch daran, wenn wir vor allem auf die Bedürfnisse anderer achten?

Wer sich ständig zurücknimmt, um es anderen recht zu machen, beutet sich selbst aus. Das macht auf Dauer unglücklich. Und oft tun wir auch der Person, für die wir uns aufopfern, nichts Gutes. Denn die Beziehung wird darunter leiden. Wir werden unterschwellig wütend auf den Partner oder die Freundin, die in unseren Interaktionen immer mehr zu bekommen scheinen – zum Beispiel, weil wir ihnen immer aufmerksam zuhören, sie uns aber weniger, oder weil sie zumeist bestimmen, was wir unternehmen. Die Beziehung fühlt sich so immer weniger befriedigend an. Vielleicht brechen wir sie irgendwann sogar ab. Es ist also für alle Beteiligten gut, rechtzeitig für sich selbst einzustehen und zu sagen, was wir brauchen.

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Welche zentralen Bedürfnisse gibt es?

Es gibt körperliche Bedürfnisse wie Atmen, Schlafen, Essen und Trinken. Auch regelmäßige Bewegung und Erholung zählen dazu. Dann gibt es eine Reihe von Bindungs- und Beziehungsbedürfnissen: Wir sehnen uns danach, sozial eingebunden und sicher zu sein. Wir wollen uns anderen nahe fühlen und von ihnen gesehen und respektiert werden. Als soziale Wesen sind diese Bedürfnisse für uns besonders zentral. Aber auch Lust, wie man sie in sinnlichem Genuss, in der Sexualität und auch im Spiel findet, ist ein wichtiges Bedürfnis. Ebenso zählen Kontrolle, Kompetenz und Autonomie zu den wichtigen Grundbedürfnissen. Und schließlich streben wir danach, ein sinnhaftes und erfülltes Leben zu führen: Wir wollen mit unseren Werten im Einklang leben, kreativ sein und unsere Träume verwirklichen.

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Wie merke ich, dass ich meine Bedürfnisse aus dem Blick verliere?

Wenn wir unsere Bedürfnisse vernachlässigen, werden wir unzufrieden. Wie wir uns genau fühlen, hängt davon ab, welches Bedürfnis wir aus dem Blick verloren haben. Fühlen wir uns zum Beispiel eingeengt oder wütend, zeigt das oft an, dass wir unsere Autonomie vernachlässigt haben, uns also zu viel fremdbestimmen lassen. Einsamkeit ruft dazu auf, sich zu verbinden. Innere Leere könnte ein Hinweis darauf sein, sich wieder mehr mit Bedürfnissen aus dem Bereich Sinn und Selbstverwirklichung zu beschäftigen. Und sich energielos oder angespannt zu fühlen, könnte darauf hindeuten, dass es uns an lustvollen Erfahrungen fehlt. Unsere Gefühle geben uns also gute Hinweise darauf, auf welche Bereiche unseres Lebens wir schauen sollten, um erfüllter zu leben.

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Welche Achtsamkeits- oder Meditationsübungen helfen mir dabei, meine Bedürfnisse wahrzunehmen?

Viele Meditationen und Achtsamkeitsübungen beginnen damit, den Körper genauer zu spüren. Zum Beispiel wandern wir einmal mit der Aufmerksamkeit vom Kopf bis zu den Füßen. Oder wir spüren für ein paar Minuten den atmenden Körper als Ganzes. Wie meine Forschungsarbeiten am Leipziger Max-Planck-Institut und die vieler anderer Wissenschaftler:innen zeigen, hilft der Kontakt mit dem Körper, die eigenen Gefühle klarer wahrzunehmen. Es ist oft hilfreich, das Gefühl zu benennen, zum Beispiel „Angst“, „Traurigkeit“. Dann können wir fragen: Welches Bedürfnis steckt hinter diesem Gefühl? Was sagt es mir darüber, was ich brauche? Suche ich zum Beispiel nach Sicherheit oder Verbundenheit? Wir können dann überlegen, was wir tun könnten, um unserem Bedürfnis nachzukommen.

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Wie kann ich anderen gegenüber deutlich machen, was ich brauche, ohne sie vor den Kopf zu stoßen?

Oft hilft ein Vierschritt aus Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und konkretem Wunsch. Etwa so: „Ich habe den Eindruck, dass du in unseren Gesprächen deutlich mehr erzählst als ich. Ich höre dir gern zu, aber manchmal fühle ich mich dann auch sehr passiv oder werde wütend. Ich fände es gut, wenn du mehr Pausen im Gespräch lassen und mir mehr Fragen stellen würdest.“ So zu sprechen erfordert Mut, denn wir zeigen unser weiches Inneres. Zugleich geben wir dem anderen die Chance, auf uns einzugehen. So können wir uns näherkommen und die Beziehung vertiefen.

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Wie kann es gelingen, die Bedürfnisse anderer im Blick zu behalten, ohne mich dabei zu verlieren?

Zu fühlen, was wir brauchen und danach zu handeln, ist essenzieller Teil der Lebensreise jedes Einzelnen. Wir können das niemandem abnehmen. Das kann erleichtern, denn in dieser Hinsicht haben wir die Verantwortung für nur eine einzige Person: uns selbst. Aber natürlich gibt es Menschen, denen es schwerfällt, ihre Bedürfnisse klar zu erkennen oder ihre teils widerstreitenden Bedürfnisse zu sortieren – zum Beispiel Kinder oder Personen, die gerade in einer Krise stecken. Hier können wir unserem Gespür vertrauen, um Fragen zu stellen und Vorschläge zu machen: „Kann es sein, dass du Nähe brauchst?“ „Möchtest du, dass ich dich in den Arm nehme?“ Wir können unsere Hilfe anbieten, uns in Mitgefühl üben. Aber was die Person annimmt und was sie tut, kann letztlich nur sie selbst entscheiden.

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Wie gelingt es, sich selbst einmal zurückzunehmen, ohne sich zu verleugnen?

Es ist wichtig, es ertragen zu können, wenn die eigenen Bedürfnisse vorübergehend nicht erfüllt werden. Wenn wir zum Beispiel gerade ein Kind bekommen haben, werden wir Einschnitte machen müssen. Wichtig ist es hier, es nicht vor sich selbst kleinzureden, unerfüllte Bedürfnisse zu haben. Besser ist es, Pläne zu machen, wann und wie sich diese Bedürfnisse zumindest teilweise erfüllen lassen. Entscheidend ist, immer wieder mit sich selbst in Kontakt zu gehen und sich zu fragen, was wir brauchen, und Wege zu finden, unseren Bedürfnissen nachzukommen.

Foto: Stocksy