Achtsamkeit für jeden Tag

Mit Zweifeln umgehen

Innere Unsicherheiten können manchmal ganz schön lähmen. Wie wir unsere Zweifel auflösen und sogar zum Guten nutzen können, erklärt Boris Bornemann

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Wieso zweifeln wir eigentlich so viel?

Weil es oft nützlich ist. Dass wir heute länger leben, gesünder sind und die Welt immer besser verstehen, liegt daran, dass es immer wieder Menschen gab, die das Bestehende hinterfragt haben. Das gilt bis heute. Wir zweifeln und optimieren in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und auch im Privaten. Manchmal allerdings auch zu unserem Leidwesen. Gerade im Privaten können wir vieles nicht im Kopf ausknobeln. Hier ist es häufig gut, eher aus dem Herzen zu entscheiden.

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Was für Prozesse setzt das Zweifeln in Gang?

Wenn wir zweifeln, bilden wir im Gehirn eine alternative Wirklichkeit ab. Wir stellen uns zum Beispiel intensiv vor, wie es wäre, einen anderen Job zu machen als jetzt. Dabei simuliert das Gehirn, wie sich diese Wirklichkeit anfühlen würde. Vielleicht entsteht dabei der Eindruck, man würde mehr Anerkennung bekommen oder könnte sich kreativ besser entfalten. Wir beginnen unseren aktuellen Weg infrage zu stellen. Jede Veränderung kostet allerdings auch Kraft: Wir müssen alte Bindungen kappen und schwierige Gespräche führen. Wir sind zudem unsicher, ob die Alternative wirklich so gut ist, wie wir sie uns vorstellen. Wenn wir unsicher sind, aktiviert das Hirnregionen in uns, die eher mit unangenehmen Gefühlen einhergehen. Wir fühlen uns innerlich gespalten und unruhig.

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Wir leben in einer Welt voller Möglichkeiten. Ruft das auch mehr Zweifel in uns hervor?

Wir können uns heute auf vielfältige Weisen selbst entwerfen. Es gibt viel mehr unterschiedliche Ausbildungsgänge, Studienfächer und Jobmöglichkeiten als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch die Möglichkeiten, Liebe und Beziehung zu leben, sind vielfältiger geworden. Über Filme, Medienberichte und soziale Netzwerke bekommen wir viel von diesen alternativen Lebensmöglichkeiten mit. Einerseits ist das schön. Andererseits kann es uns auch überfordern. Wir fragen uns dann schnell: Verpasse ich etwas? Lebe ich wirklich das bestmögliche Leben? Diese Fragen können uns leicht unzufrieden machen, denn wir vergleichen uns mit anderen oder leben in Alternativen in unserem Kopf statt in der Wirklichkeit.

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Frauen zweifeln ja besonders gerne an sich selbst...

Es gibt tatsächlich Studien, etwa vom GfK-Marktforschungsinstitut und der Uni Heidelberg, die nahelegen, dass Frauen mehr an sich und ihren Fähigkeiten zweifeln als Männer. Im Berufsleben liegt das sicher daran, dass es für viele Positionen mehr männliche als weibliche Vorbilder gibt. Es gibt zum Beispiel viel mehr bekannte männliche als weibliche Unternehmer, Politiker oder Journalisten. Wenn Frauen nach solchen Positionen streben oder sie bekleiden, fragen sie sich oft mehr oder minder bewusst: Darf ich das? Kann ich das? Wenn es aber Vorbilder gibt, die uns ähnlich sind, können wir uns viel leichter daran orientieren, in die Rolle hineinwachsen und an unsere Kompetenz glauben.

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Wie können Achtsamkeit und Meditation helfen, mit inneren Unsicherheiten umzugehen?

Wir können uns in der Meditation unseren Körperempfindungen zuwenden. Wer seinen Körper gut spürt, nimmt nachweislich auch seine Gefühle besser wahr, wie unter anderem meine Kolleg:innen und ich in unseren Studien am Max-Planck-Institut zeigen konnten. Wir können diese Gefühle dann benennen und auch fragen, auf welche Bedürfnisse sie uns hinweisen. So lernen wir uns immer besser kennen. Wir verharren weniger lange in Zweifeln, weil wir besser wissen, was wir wollen. Durch Meditation können wir außerdem lernen, intuitiver zu leben. Das Leben erscheint dann nicht mehr als etwas, was wir am Reißbrett in unserem Kopf durchplanen und optimieren müssen. Wir erleben es eher als Reise, von Moment zu Moment, und vertrauen unserer inneren Führung.

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Wie kann ich mich selbst stärken, um mich weniger von Zweifeln aufhalten zu lassen?

Es ist gut, wenn wir den Zweifel akzeptieren können. Er gibt uns wichtige Signale darüber, wo vielleicht noch etwas nicht ganz stimmt. Wenn wir nicht mehr gegen den Zweifel ankämpfen, findet er seinen Platz in uns. Es entsteht Raum, dass wir uns auch den vielen anderen Regungen in uns zuzuwenden können: der Freude an dem, was wir gerade tun. Der Dankbarkeit für das, was an unserem Leben gut ist. Dem Mut, unseren Weg zu gehen. Anstatt nur zu handeln, wenn wir keine Zweifel mehr haben, handeln wir trotz des Zweifels. Er ist ein Ratgeber unter vielen, er hat seinen Wert. Wir können zweifeln und zugleich mutig und entschlossen sein

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Sollte ich über Zweifel sprechen oder sie lieber für mich behalten?

Zweifel sind sehr menschlich, aber es wird viel zu wenig darüber gesprochen. Eine Statistik von 2021 zeigt zum Beispiel, dass Paare eher darüber reden, dass der Sex mit dem Ex-Partner besser war, als darüber, dass sie manchmal an der Beziehung zweifeln. Wenn wir nicht über unsere Zweifel sprechen, kann es schnell passieren, dass wir uns allein damit fühlen oder uns für sie schämen. Wir könnten stattdessen etwas sagen wie: „Ich liebe dich und bin meistens sehr gern mit dir zusammen. Aber manchmal zweifle ich auch.“ Wenn wir sensibel darüber sprechen, spaltet ein solches Gespräch nicht, sondern führt uns eher enger zusammen. Es erfordert viel Mut und Fingerspitzengefühl, über Zweifel zu sprechen. Aber es kann uns guttun: Wir lernen, zu uns selbst zu stehen, und laden so auch andere ein, ehrlich darüber zu sprechen, was sie erleben – was vermutlich auch Zweifel einschließt.

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Welche guten Seiten hat der Zweifel? Und wie kann ich sie nutzen?

Zweifel sind Signale. Sie weisen mich auf etwas hin: Zum Beispiel darauf, was mir in einer Beziehung oder einem Job fehlt. Oft heißt das aber nicht, dass ich die Beziehung beenden oder den Job kündigen muss. Klüger ist es, zunächst zu fragen, was sich innerhalb der bestehenden Verhältnisse ändern lässt, um die eigenen Bedürfnisse besser zu befriedigen. Zweifel können eine Entscheidung außerdem veredeln. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sprach in dem Zusammenhang vom „Sprung in den Glauben“: In religiösen und romantischen Dingen, aber auch bei der Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg, kommt der Verstand an seine Grenzen. Gerade weil ich nicht mehr rein rational erkennen kann, was gut und richtig ist, muss ich mein Herz sprechen lassen. Sich inmitten der Zweifel für einen bestimmten Weg zu entscheiden, hat eine große Schönheit: Es ist ein Akt der Hingabe.

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