Achtsamkeit für jeden Tag

Unerwartetes meistern

Das Leben bringt unerwartete Wendungen mit sich. Manche davon können uns mit Angst und Sorge erfüllen. Wie wir Unsicherheiten positiv begegnen, verrät Boris Bornemann.

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Bei vielen lösen Veränderungen ungute Gefühle aus. Was passiert da innerlich und warum?

Im Laufe der Evolution haben wir Menschen gelernt, wie wichtig es ist, mit unserer Energie zu haushalten. Jede Veränderung kostet aber Kraft. Um gewohnte Bahnen zu verlassen, müssen wir neue Nervenverbindungen anlegen. Das machen wir nur, wenn es wirklich nötig ist. Psychologische Experimente zeigen außerdem: Von zwei völlig gleichwertigen Optionen ziehen Menschen meist die vertrautere vor.

Illustration: Ilenia Zito

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Eigentlich wissen wir doch, dass das Leben nicht planbar ist. Wieso tun wir uns dennoch so schwer, uns auf Unerwartetes einzustellen?

Auf unsichere Situationen reagieren wir von Natur aus mit Unwohlsein. Wird das Essen bis zum Ende der Woche reichen? Ist dieser Platz ­sicher? Ist diese Person vertrauenswürdig? Im Gehirn wird in solchen Situationen das anteriore Cingulum aktiv. Das wiederum hängt eng mit unserem sympathischen Nervensystem zusammen, was unser Herz schneller schlagen lässt, wach macht und die Muskeln aktiviert. Das ist in vielen Situationen nützlich. Wir können die Aktivierung nutzen, um die Situation zu klären. Wenn die Unsicherheit allerdings rein aus unseren Vorstellungen und Fantasien entspringt, können wir durch ­äußeres Handeln nichts lösen. Wir müssen uns nach innen wenden.

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Wie kann ich besser mit Gefühlen von Unsicherheit und Kontrollverlust umgehen?

Ein erster Schritt besteht darin, diese Gefühle zu normalisieren. Wir können uns fragen: Wie viele Menschen erfahren wohl gerade etwas sehr Ähnliches? Wir können dann die Gefühle im Körper erkunden. Wahrnehmen, wo Unruhe ist, wo wir angespannt sind und was wir sonst noch spüren können. Das ist eine grundlegende Form der Zuwendung zu uns selbst. Den Körper zu spüren hilft, destruktive Gedankenspiralen zu unterbrechen und uns auf eine hilfreiche ­Haltung zu besinnen. Wir können sie in einem Satz ausdrücken wie: „Möge ich freundlich und liebevoll mit mir sein.“ Oder: „Möge ich mit Leichtigkeit auf die Situation schauen.“ Wir üben also, das Gefühl der Unsicherheit zu akzeptieren, und wenn es da ist, freundlich mit uns selbst zu sein. 

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Was brauche ich, um in Zeiten großer Veränderung (wie im Moment) Sicherheit und Vertrauen zu finden?

Gerade in unsicheren Zeiten können nahe Beziehungen einen sicheren Hafen bieten. Es ist also gut, diese Beziehungen zu stärken. Das Gefühl von Geborgenheit hilft dabei, mit den Turbulenzen des Lebens klarzukommen. Genau wie feste Routinen. Ein Morgenritual zum Beispiel mit Yoga, Meditation oder Journaling. Den Fokus auf die eigenen Stärken und Ressourcen zu lenken bietet ebenfalls Sicherheit. Dazu können wir uns verschiedene Fragen stellen: Wofür bin ich dankbar? Was mag ich an mir? Was kann ich gut? Nimm dir Zeit, um die Fragen auf dich wirken zu lassen, dir die Antworten innerlich vorzusprechen oder sie aufzuschreiben. Sich so das Gute im eigenen Leben bewusst zu machen, lässt einen mit mehr Ruhe und Vertrauen in die Zukunft schauen.

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Manche Veränderungen werfen uns völlig aus der Bahn. Inwiefern helfen Meditation und Achtsamkeit dann weiter?

Zunächst geht es darum, mitfühlend mit uns selbst zu sein. Sich zu erinnern, dass diese Umbrüche zum Leben gehören. Dass der Grund dafür nicht immer bei uns liegt. Und dass es normal ist, sich niedergeschlagen oder aufgebracht zu fühlen. Wir können dann in der Meditation genauer untersuchen, was in uns vorgeht, und fragen: Welches Bedürfnis steht hinter meinen Gefühlen? Sehne ich mich nach Geborgenheit, nach Anerkennung, nach Anregung oder Ausdruck? Und was wären jetzt, genau hier und heute, Wege, um dieses Bedürfnis zu ­adressieren? Eine regelmäßige Meditationspraxis hilft sehr. Durch sie entwickeln wir eine grundlegende Gelassenheit; eine Bereitschaft, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und ein Bewusstsein über un-sere Freiheit, es in jedem Moment neu zu gestalten.

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In der Achtsamkeit wird der Fokus sehr auf das Hier und Jetzt gelegt. Was bringt das bei Angst vor Veränderungen?

Der vietnamesische Achtsamkeitslehrer Thich Nhat Hanh sagt: „Die beste Weise, sich um die Zukunft zu kümmern, besteht darin, sich sorgsam der Gegenwart zuzuwenden.“ Wenn wir uns auf den gegenwärtigen Moment fokussieren, sparen wir viel Energie. Wir verlieren uns nicht in Gedanken über mögliche Szenarien, die in der Zukunft eintreffen könnten. Arbeiten uns nicht an etwas ab, das wir ohnehin nicht ändern können. Die Angst ist vielleicht weiterhin da. Aber sie bekommt nicht mehr so viel Gewicht. Wir konzentrieren uns stattdessen auf den einzigen Moment, den wir wirklich gestalten können: Diesen hier. Genau jetzt. Wir fühlen uns klarer und ruhiger. Und zugleich lebendiger und freier.

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Wie kann ich mich auf anstehende Veränderungen aktiv vorbereiten?

Den Fokus auf den Augenblick zu legen schließt nicht aus, dass ich mich auch mit der Zukunft auseinandersetze. Wir sollten uns dabei allerdings darüber im Klaren sein, dass das alles nur Fantasien sind, die wir uns jetzt gerade machen. Trotzdem können wir den Blick nach vorne positiv nutzen, indem wir uns bewusst in unsere liebste Variante der Zukunft hineinträumen. So empfinden wir Vorfreude statt Angst. Gleichzeitig lernt das Unterbewusstsein, diese positive ­Zukunft für möglich zu halten. Wir ­können uns aber auch in die unbeliebteren Varianten hineindenken und ­dabei bemerken: Selbst wenn etwas Negatives passiert, wäre ich weiterhin ein freier Mensch, der kreativ und mitfühlend mit der neuen Situation um­gehen kann. Manchmal hilft es auch, andere Menschen zu befragen, die bereits Ähnliches erlebt haben, um von ihren Erfahrungen zu lernen. Oder wir fragen uns einfach selbst: Was ist das größte Potenzial dieser Veränderung? Was kann ich lernen? Was kann ich loslassen?

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Viele Veränderungen haben letztlich etwas Positives. Wie gelingt es mir, das zu sehen?

Wir können einmal darüber nachdenken, wie es wäre, wenn immer alles gleich bliebe. Dann merken wir schnell, dass ein gewisses Maß an Veränderung durchaus angenehm ist, selbst wenn sich das in dem jeweiligen Moment nicht immer so anfühlt. Vielleicht fühlen wir gerade Wachstumsschmerzen. Aber in der Regel ist es genau dieser Wandel, der uns am Ende dabei hilft, über uns hinauszuwachsen. Um das zu verstehen, hilft es, sich für einen Moment sich selbst zuzuwenden. Wir können uns zum Beispiel fragen: Welche Fähigkeiten erlerne ich gerade? Um welche schöne oder abenteuerliche Geschichte werde ich reicher? Wir können uns auch an der Gewissheit erfreuen, dass alles Unangenehme irgendwann vorbeigeht. Das Wichtigste aber ist die Fähigkeit, loszulassen und uns mit einem offenen Herzen, mit Leichtigkeit und Vertrauen in den Strom des Lebens fallen zu lassen.

Illustration: Ilenia Zito, Julia Baier (Porträt)