Achtsamkeit für jeden Tag

Wie wir den Fokus behalten

Konzentriert zu bleiben ist gar nicht so einfach, denn Ablenkungen lauern überall. Wie wir es dennoch schaffen, nicht so oft abzuschweifen, sagt Boris Bornemann

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Wieso lassen wir uns so gerne ablenken?

Dafür gibt es sehr vielfältige Gründe. Manchmal sind wir nicht motiviert. Wir mögen nicht so recht, was wir tun. Die Aufgabe entfaltet daher nicht genug Sogkraft. Manchmal sind wir auch einfach müde. Oft läuft in unserem Inneren eine ganze Menge ab. Die Gedanken und Gefühle funken dazwischen. Und schließlich kann die Unruhe auch aus der Umgebung kommen, zum Beispiel in Form von Menschen, die uns ansprechen, oder von Nachrichtentönen auf dem Smartphone.

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Ist es ein Phänomen unserer Zeit, dass wir so wenig aufmerksam sind?

Eine schwere Form der Unaufmerksamkeit ist die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Man hört manchmal, dass es davon immer mehr Fälle gäbe. Eine brasilianische Studie, die 135 weltweit durchgeführte Studien aus den letzten drei Jahrzehnten auswertet, zeigt allerdings, dass die Häufigkeit von ADHS nicht zugenommen hat. Allerdings gibt es heute mehr Quellen äußerer Ablenkung als früher wie zum Beispiel das Smartphone oder personalisierte Werbebanner im Internet. Außerdem führen viele Menschen Leben, die komplexer sind und so schwerer zu überschauen als früher. Es lohnt sich also, den Umgang mit Ablenkungen zu reflektieren, unsere Aufmerksamkeit zu schulen und zu lernen, sie bewusster zu lenken.

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Was passiert im Kopf, wenn wir abschweifen?

Im Gehirn laufen viele unterschiedliche Prozesse gleichzeitig ab. Einige Hirnbereiche sind mit der Aufgabe beschäftigt, die wir uns vorgenommen haben. Andere produzieren Erinnerungen, Planungen oder andere Formen der Assoziation. Besonders wenn diese unterschwellig ablaufenden Prozesse von starker emotionaler Bedeutung sind, nehmen wir sie bewusster wahr. Es wird zum Beispiel die Amygdala aktiviert, das Alarmzentrum des Gehirns, wenn es ein Gedanke ist, bei dem es um Gefahren geht. Oder aber Belohnungszentren springen an, wenn wir an eine attraktivere Tätigkeit denken. Dann gibt es mindestens zwei Aktivitätsmuster im Gehirn, die einander widersprechen: das, das zur Aufgabe gehört, und ein anderes. Dieser Konflikt wird meist als unangenehm erlebt.

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Was ist am ständigen Abschweifen so problematisch?

Eine große Studie von zwei Wissenschaftlern aus Harvard zeigt: Menschen sind in der Regel am glücklichsten, wenn sie mit ihrer Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt sind. Es gibt dann keinen inneren Konflikt. Das Nervensystem arbeitet kohärenter – wir könnten sagen: harmonischer. Abschweifen reißt uns aus dieser inneren Ruhe. Wir teilen uns sozusagen innerlich auf, führen zwei Leben gleichzeitig: eins in Fleisch und Blut, mit dem, was wir gerade tun, und eins in unseren Gedanken. Wir sind zerrissen. Wir verbrauchen so auch mehr Energie, als wenn wir nur bei einer Sache blieben. Wir werden schneller müde und sind oft weniger leistungsfähig.

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Smartphone, Tablet und Co. haben daran natürlich großen Anteil. Wie kann ich mich ihrem Sog entziehen?

Ich empfehle, in Zeitintervallen zu arbeiten. Dafür stellt man sich einen Wecker, zum Beispiel auf 40 Minuten. In dieser Zeit bleiben Mailprogramm und Handy aus. Und wir widerstehen der Versuchung, auf eine Nachrichtenseite zu gehen oder Ähnliches. Vielen Menschen fällt das gar nicht so schwer, weil der Zeitraum überschaubar bleibt. Wer erst einmal die Erfahrung macht, wie angenehm es ist, ungestört in eine Aufgabe einzudringen, möchte diese Phasen konzentrierter Arbeit nicht mehr missen. Auch in der Freizeit kann es sinnvoll sein, kurz innezuhalten, bevor wir zum Handy greifen. Wir können in den Körper spüren, einen tiefen Atemzug nehmen und uns fragen: Will ich jetzt gerade wirklich draufschauen oder ist das bloß ein Reflex?

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Woran kann es sonst noch liegen, dass es mir schwerfällt, mich zu fokussieren?

Oft kommen die Ablenkungen nicht von außen, sondern von innen. Fast jeder Mensch trägt zum Beispiel Themen mit sich herum, die er noch nicht verarbeitet hat. Vielleicht denken wir an einen Konflikt in unserer Partnerschaft oder grübeln darüber nach, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht haben oder anders hätten sagen können. Es ist wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um diese Themen aufzuarbeiten. Wir können darüber zum Beispiel in eine Art Tagebuch schreiben, kontemplative Spaziergänge machen oder uns mit Freund:innen austauschen. Wir können aber auch Gespräche mit unserem Partner oder unserer Partnerin führen oder therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Je weniger es im Unterbewussten brodelt, umso mehr können wir uns in den Moment fallen lassen.

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Welche Achtsamkeits- oder auch Meditationsübung hilft mir, besser bei der Sache zu bleiben?

Um unsere Konzentrationsfähigkeit in der Meditation zu schulen, suchen wir uns ein Objekt, auf das wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Das kann der Atem sein oder der Körper als Ganzes. Es kann aber auch der Strom der Geräusche aus unserer Umgebung sein oder das Licht einer Kerze. Wann immer die Aufmerksamkeit wandert, bringen wir sie behutsam zurück. Das verbessert nachweislich unsere Aufmerksamkeitsleistung, wie eine 2021 erschienene Übersichtsarbeit zeigt, in der 37 gut kontrollierte Studien zusammengefasst wurden. Diese Übung sollte sich übrigens nicht anstrengend anfühlen. Im Gegenteil: Eine tiefe Sinnesaufnahme entsteht leichter, wenn wir entspannt sind und Freude an der Übung haben. Deswegen ist es gut, Meditationsformen zu finden, die wir wirklich mögen. Die Erfahrungen aus der Meditation kommen uns dann auch im Alltag zugute: Wir lernen, wie wir auf eine entspannte, freudvolle Art bei einer Sache bleiben.

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Hat das Abschweifen denn nicht auch seine guten Seiten?

Beim Abschweifen und Tagträumen können auch gute Ideen entstehen. Träumen und Fantasieren sind Ausdruck eines lebendigen Geistes. Wir sollten uns nicht darüber ärgern, wenn wir viele Gedanken haben. Hilfreicher ist es, wenn wir liebevoll und entspannt mit unserem Geist umgehen. Etwa so, wie wir mit einem Hundewelpen umgehen, der in unserer Wohnung herumtollt. Überwiegend ist seine Aktivität putzig, interessant und liebenswert. Wir können ihm einfach zuschauen und uns daran erfreuen. Nur manchmal müssen wir eingreifen, wenn der Welpe durch sein Verhalten sich oder andere gefährdet. Studien legen nahe, dass Menschen, die ihre Gedanken in dieser nicht wertenden, wohlwollenden Weise betrachten, kreativer und zufriedener sind.

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Wie wichtig sind regelmäßige Auszeiten und ausreichend lange Ruhephasen, um meine Aufmerksamkeit zu entspannen?

Regelmäßige Pausen sind äußerst wichtig, wenn wir fokussiert und kreativ bleiben wollen. Verschiedene Studien zeigen, dass Menschen, die bei der Arbeit regelmäßig Pausen machen, gesünder und zufriedener sind. Die Produktivität steigt dabei entweder an oder bleibt gleich, fällt aber fast nie ab. Einige Menschen finden es hilfreich, alle 25 Minuten eine kurze Pause zu machen. Andere bevorzugen 40- oder 60- Minuten-Blöcke. Aber allerspätestens nach 90 Minuten sollten wir uns etwas Erholung gönnen. Wenn wir im Sitzen arbeiten, sollten wir in der Pause auf jeden Fall aufstehen und uns etwas bewegen. So lösen wir sowohl körperliche als auch geistige Anspannung.

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Was hilft noch, um fokussiert zu bleiben?

Unsere Aufmerksamkeit erholt sich besonders gut in natürlichen Umgebungen. Menschen, die in einem botanischen Garten spazieren gingen, zeigten in einer Studie hinterher bessere Aufmerksamkeitsleistungen als Menschen, die in der Stadt spazieren gingen. Die friedlichen und angenehmen Reize in der Natur erlauben es dem Geist, sich zu entspannen und zu erfrischen. Außerdem ist es hilfreich, wenn wir seelisch ausgeglichen sind. Regelmäßige Bewegung sowie Kontakt mit Freund:innen tragen dazu bei. Und schließlich ist es umso leichter, fokussiert zu bleiben, je mehr uns die Tätigkeit, der wir nachgehen, als sinnvoll erscheint und unseren Vorlieben und Talenten entspricht. Solche Aufgaben entfalten ihren eigenen Sog, aus dem uns nichts so leicht herausreißt.

Foto: Paul Skorupskas/ unsplash