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Mehr Wildnis im Alltag

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Mehr Wildnis im Alltag

Draußen in der Natur zu sein tut in fast jeder Hinsicht gut. Aber wie bekommt man seine tägliche Dosis, wenn man in der Stadt lebt und der nächste Dschungel ein paar Zimmerpflanzen sind?

Auf einer Reise durch Kanada war ich zum ersten Mal im Leben als Mensch in der Minderheit. Die Natur dort ist überwältigend. Eines Nachmittags saß ich allein am Meer, umgeben von zwanzig Seeadlern. Ich hörte den schrillen Ruf dieser majestätischen Vögel, fühlte die Sonne auf mei- nem Gesicht und hörte das Rauschen eines Baches, der ins Meer mündete. Plötzlich steckte eine Robbe ihren Kopf aus dem Wasser, und hinter mir knabberten vier Rehe an den wilden Erbsenpflanzen am Strand. Ich war ganz und gar in der Natur versunken.

Zu Hause in der Stadt sehne ich mich regelmäßig nach diesem Gefühl zurück, eins mit der Wildnis zu sein. Um diese Sehnsucht wenigstens etwas zu befriedigen, spaziere ich nach der Arbeit oft durch den Park nach Hause. Ich habe zwar eine Pflanze neben dem Computer stehen, aber nichts geht über eine Dosis Bäume am Ende eines Werktages. Ich habe das Gefühl, in der Natur aufzutanken. Und das bilde ich mir nicht nur ein: Ein Forschungsteam der University of East Anglia in England sammelte Daten von 290 Millionen Personen aus insgesamt 140 Studien über den gesundheitlichen Nutzen der Natur für den Menschen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass die Nähe zur Natur Stress, Ängste und Depressionen deutlich reduziert. Das Stresshormon Cortisol war bei denjenigen, die sich regelmäßig im Grünen aufgehalten hatten, viel niedriger als bei Personen, die sich überwiegend in einer städtischen Umgebung bewegten. Ein grünes Umfeld erhöht außerdem die Konzentration und senkt sogar das Risiko von Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, so ihre Beobachtung.

Korrespondierend dazu zeigen norwegische Forschungen, dass Menschen, die in einer Umgebung ohne Zugang zur Natur leben, einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand und ein geringeres Wohlbefinden hatten als diejenigen, die in einer grünen Umgebung wohnen. Laut den Forschern liegt das an der Lebensweise unserer Vorfahren. Als der Mensch noch als Jäger und Sammler unterwegs war, deutete das Vorhandensein von Pflanzen und anderen Lebensformen darauf hin, dass es ausreichend Nahrung, Wasser und Schutz gab. Dieses beruhigende Gefühl ist immer noch in unserer DNA gespeichert, und deshalb geht es uns in einem natürlichen Umfeld am besten. Wir fühlen uns also in einem Park glücklicher und gesünder als zwischen Zimmerpflanzen im Büro. Dennoch betrachten wir in unserer heutigen Gesellschaft die Natur zunehmend als etwas vom Menschen Getrenntes. Wir statten ihr nur dann und wann einen kurzen Besuch ab, um uns direkt danach wieder in unsere technisierte, urbane Welt zurückzuziehen. Natürlich wäre es schöner, wenn sich diese Beziehung intensivieren ließe. Aber wie bleibt man mit der Wildnis in Kontakt, gerade wenn man in der Stadt lebt?

DIE NEUE FLOW IST DA!

DIE NEUE FLOW!

Ab sofort am Kiosk oder per Post zu dir nach Hause bestellen:
die neue Ausgabe von Flow  ist da.

Die neue Flow ist ab heute am Kiosk und in unserem Onlineshop zu haben. Das sind die Themen in dieser Ausgabe:

🔹LASS DICH VON DER WELT VERZAUBERN
Oft ist unser Tag gefüllt mit vielen Aktivitäten, und doch fühlen wir uns innerlich leer. Was dagegen hilft, ist, unsere Sinne zu schärfen – schon fühlen wir uns wieder lebendiger. Wie das gelingt

🔹WAS MACHST DU GERADE?
Das haben wir drei Menschen gefragt, die uns inspirieren: Landschaftsplanerin Pia Reschberger, Illustratorin Rani Temmink und Nina Greif-Reitzenstein, Gründerin eines Modelabels

🔹ZUFRIEDEN IM JOB
Um sich beruflich erfolgreich zu fühlen, muss man keine Karriere machen. Manchmal bringt es uns viel weiter, den vorgezeichneten Weg zu verlassen

🔹LEBENSLAUF: MONIKA FUCHS
Die 86-jährige Youtube-Köchin hatte viele Tiefschläge zu verkraften und ließ sich doch nie unterkriegen. Im Interview verrät sie ihr Rezept für Resilienz

🔹SCHMETTERLINGE IM KOPF
Nicht nur Kinder haben ADHS, auch Erwachsene kämpfen damit. Wie sie damit umgehen und welche wertvolle Fähigkeiten die Aufmerksamkeitsstörung mit sich bringt

🔹PORTRÄT: JANE BIRKIN
Sie verkörperte das Freiheitsgefühl und die Lebenslust ihrer Generation, ihr Stil inspiriert bis heute. Über das bewegte Leben der Schauspielerin und Sängerin

🔹TROSTREZEPT
Nach einem schweren Tag auf seiner Farm verwöhnt sich der britische Koch Julius Roberts am liebsten mit nahrhafte Spinat-Ricotta-Gnudi

🔹LEKTIONEN AUS DEM GARTEN
Ausgerechnet ein störrischer Stadtgarten machte aus unserer Autorin eine begeisterte Gärtnerin und lehrte sie so einiges Wertvolles darüber hinaus

🔹VOM GLÜCK DES ALLEINSEINS
Die Psychologin Nika Vásquez Seguí plädiert dafür, dass wir alle mehr Zeit mit uns selbst verbringen. Denn das stärkt uns und unsere Beziehungen

🔹LESETIPPS FÜRS FRÜHJAHR
Hier kommen die aktuellen Lieblingsbücher aus der Flow-Redaktion

🔹AUF DEM WASSER ZU HAUSE
Das Meer ist seit jeher ein Sehnsuchtsort. Für manche so sehr, dass sie entscheiden, auf einem Boot zu leben. Drei Erfahrungsberichte

Das Titelbild hat Anisa Makhoul gestaltet. Wir wünschen dir viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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LESEPROBEN aus der neuen FLOW

FLOW Nummer 81

Lass dich von der Welt verzaubern

Oft sind wir mit vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt und fühlen uns doch innerlich leer. Autorin Annemiek Leclaire geht der Frage nach, wie wir wieder Zugang zu unseren Sinnen finden und uns dadurch lebendiger fühlen

Eines Tages stellte die britische Schriftstellerin Katherine May fest, dass sie etwas Grundlegendes verloren hatte. Sie konnte nicht einmal beschreiben, was es war, aber ohne diese Fähigkeit fühlte sich ihr Leben fade an wie ein abgestandenes Glas Wasser. Als sie einige Wochen später mit ihrem Sohn in den Wald ging, um ihm die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings zu zeigen, wusste sie plötzlich, was mit ihr los war. An diesem Ort trug der Wind Geräusche herbei, die sie erfüllten anstatt sie auszulaugen. Dieser Wald, schon der kleinste Teil von ihm, war eine sensorische Welt für sich, so empfand es die Autorin. „Wer ein bisschen gräbt, stößt sofort auf unterschiedliche Schichten von Leben: zarte Pilzgeflechte, Tierhöhlen, Baumwurzeln“, schreibt sie in ihrem Buch. Der Zauber der Welt. Mit der Sehnsucht, fortan anders durchs Leben zu gehen, wieder mehr zu staunen und sich verzaubern zu lassen, erkundet die Autorin ab diesem Moment die heilende Kraft der Natur: Sie geht schwimmen, macht Feuer, beobachtet einen Meteoritenschauer und schreibt über ihre Erfahrungen.

DIFFUSER NEBEL
Ich habe das Buch von Katherine May nach einer anstrengenden Phase meines Lebens gelesen und ihre Worte waren wie eine Offenbarung für mich. Diese seltsame Leere, von der May berichtet, war mir nur allzu vertraut: Meine Lebendigkeit war mir irgendwann abhandengekommen. Ich war so eingebunden in meine Alltagsroutine, dass mir mein Leben wie eine eintönige Aneinanderreihung von Tagen vorkam. Intensive Momente suchte ich vergebens, stattdessen hatte ich das Gefühl, nur so vor mich hinzuleben. Ich fühlte mich innerlich rastlos und war unfähig, ein paar Buchseiten konzentriert am Stück zu lesen, ohne abzuschweifen. Denn in meinem Kopf drehte sich das immer gleiche Gedankenkarussell.

Foto: Shutterstock

Was war los mit mir? Woher kam dieser diffuse Nebel, der mich umgab? „Sich so zu fühlen ist ganz normal, wenn man lange Zeit stark eingespannt ist“, sagt die Neuropsychologin Linde Nieman. Sie leitet im niederländischen Leiden eine Agentur, die Menschen dabei hilft, ihren Fokus wiederzufinden und sich besser zu konzentrieren. „Dein Gehirn ist überreizt. Es sieht deshalb ständig neue Gefahren und kann nur schwer zur Ruhe kommen. Aus diesem Grund bleibt es häufig in Grübelschleifen stecken, und oft fühlt sich der eigene Kopf dann wie ein Gefängnis an. Es kann guttun, die Aufmerksamkeit auf unmittelbare Sinneserfahrungen und die direkte Umgebung zu lenken. Dadurch können wir in den Moment zurückkehren. Und erkennen, dass es in diesem konkreten Augenblick oft gar keinen Grund für Stress gibt“, sagt mir Linde. Gerade wenn wir eine Vielfalt von Sinnesreizen wahrnehmen, helfe uns das, im Hier und Jetzt anzukommen, sagt die Achtsamkeitstrainerin und Psychotherapeutin Susan Bögels. Sonst drehe sich der Verstand im Kreis. Bögels ergänzt: „In der englischen Sprache gibt es die Redewendung ‚Coming to your senses‘, was so viel heißt wie ‚zur Besinnung kommen‘. Diese Formulierung drückt plastisch aus, warum unsere Sinne so wichtig für uns sind.“

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FENSTER INS GRÜNE

Immer mehr Influencer:innen widmen sich in den sozialen Netzwerken Natur- und Nachhaltigkeitsthemen. Sie geben Einblick in ihr Leben am Waldrand, schreiben über Tierhaltung oder Gemüseanbau – und inspirieren Tausende zu einem neuen Naturerleben. Wer sind sie, was motiviert sie?

Als ich die Videos der Skandinavierin Jonna Jinton auf Instagram entdeckte, zogen sie mich sofort in ihren Bann. Neugierig und voller Sehnsucht verfolgte ich, wie diese Mittdreißigerin in den Wäldern Nordschwedens ein ganz anderes Leben führte als ich: Vor Jahren kaufte sie in einem kleinen Dorf ein baufälliges Haus. Seitdem lässt sie andere über die sozialen Netzwerke daran teilhaben, wie sie ihr Atelier renoviert, in einem zugefrorenen Fluss in einem Eisloch badet oder mit ihrem Hund Blaubeeren sammelt. Auch die Nordlichter, das magische Singen des Eises und Nachtwanderungen an Midsommar kann man mit Jonna (@jonnajinton) auf dem Smartphone erleben. Anfangs bekamen Jonnas Beiträge auf Plattformen wie Instagram und Youtube nur eine Handvoll Likes. Inzwischen verfolgen rund 1,5 Millionen Follower:innen ihren Alltag in der Natur. Und Jonna ist nicht die Einzige: Immer mehr Influencer:innen widmen sich auf ihren Kanälen einem grünen Lebensstil und rücken Naturthemen in den Fokus.

Foto: Shutterstock

Die Amerikanerin Paola Merrill (@the_cottage_fairy) etwa lebt in einer Waldhütte im ländlichen Washington und teilt von dort ihre Begeisterung für Wildblumen und das Gärtnern. Fotografin Leena Henningsen (@leena.henningsen) sucht in der Weite Norwegens ihr Glück und zeigt, welche Herausforderungen das Leben im Rhythmus der Jahreszeiten im hohen Norden mit sich bringt. Zum Wandern, Stricken unter freiem Himmel oder an den Badesee nimmt einen die Österreicherin Angelika Marangoni-Resch (@hellopippa) mit. Und die Autorin Madeleine Becker (@frau_freudig) berichtet von den Höhen und Tiefen des Hoflebens in Kärnten beziehungsweise neuerdings in der Steiermark. Sie alle haben mehrere Zehntausend bis über eine Million Follower:innen. Solche Zahlen waren vor nicht allzu langer Zeit eher charakteristisch für Lifestyle Blogger:innen, die sich im Wesentlichen mit Mode- und Beautytrends beschäftigten. Haben die Menschen heute ein größeres Interesse am naturnahen, einfachen Leben?

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