Alle Artikel von Nadine Zornow

Mehr Wildnis im Alltag

Personen laufen durch einen bewachsenen botanischen Garten
Linie mit floralem Muster

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Mehr Wildnis im Alltag

Personen laufen durch einen bewachsenen botanischen Garten

Draußen in der Natur zu sein tut in fast jeder Hinsicht gut. Aber wie bekommt man seine tägliche Dosis, wenn man in der Stadt lebt und der nächste Dschungel ein paar Zimmerpflanzen sind?

Auf einer Reise durch Kanada war ich zum ersten Mal im Leben als Mensch in der Minderheit. Die Natur dort ist überwältigend. Eines Nachmittags saß ich allein am Meer, umgeben von zwanzig Seeadlern. Ich hörte den schrillen Ruf dieser majestätischen Vögel, fühlte die Sonne auf mei- nem Gesicht und hörte das Rauschen eines Baches, der ins Meer mündete. Plötzlich steckte eine Robbe ihren Kopf aus dem Wasser, und hinter mir knabberten vier Rehe an den wilden Erbsenpflanzen am Strand. Ich war ganz und gar in der Natur versunken.

Zu Hause in der Stadt sehne ich mich regelmäßig nach diesem Gefühl zurück, eins mit der Wildnis zu sein. Um diese Sehnsucht wenigstens etwas zu befriedigen, spaziere ich nach der Arbeit oft durch den Park nach Hause. Ich habe zwar eine Pflanze neben dem Computer stehen, aber nichts geht über eine Dosis Bäume am Ende eines Werktages. Ich habe das Gefühl, in der Natur aufzutanken. Und das bilde ich mir nicht nur ein: Ein Forschungsteam der University of East Anglia in England sammelte Daten von 290 Millionen Personen aus insgesamt 140 Studien über den gesundheitlichen Nutzen der Natur für den Menschen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass die Nähe zur Natur Stress, Ängste und Depressionen deutlich reduziert. Das Stresshormon Cortisol war bei denjenigen, die sich regelmäßig im Grünen aufgehalten hatten, viel niedriger als bei Personen, die sich überwiegend in einer städtischen Umgebung bewegten. Ein grünes Umfeld erhöht außerdem die Konzentration und senkt sogar das Risiko von Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, so ihre Beobachtung.

Korrespondierend dazu zeigen norwegische Forschungen, dass Menschen, die in einer Umgebung ohne Zugang zur Natur leben, einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand und ein geringeres Wohlbefinden hatten als diejenigen, die in einer grünen Umgebung wohnen. Laut den Forschern liegt das an der Lebensweise unserer Vorfahren. Als der Mensch noch als Jäger und Sammler unterwegs war, deutete das Vorhandensein von Pflanzen und anderen Lebensformen darauf hin, dass es ausreichend Nahrung, Wasser und Schutz gab. Dieses beruhigende Gefühl ist immer noch in unserer DNA gespeichert, und deshalb geht es uns in einem natürlichen Umfeld am besten. Wir fühlen uns also in einem Park glücklicher und gesünder als zwischen Zimmerpflanzen im Büro. Dennoch betrachten wir in unserer heutigen Gesellschaft die Natur zunehmend als etwas vom Menschen Getrenntes. Wir statten ihr nur dann und wann einen kurzen Besuch ab, um uns direkt danach wieder in unsere technisierte, urbane Welt zurückzuziehen. Natürlich wäre es schöner, wenn sich diese Beziehung intensivieren ließe. Aber wie bleibt man mit der Wildnis in Kontakt, gerade wenn man in der Stadt lebt?

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Das sind die Themen in diesem Heft:

 

Ein gutes Miteinander
Es stärkt uns, unsere Beziehungen und auch die Gesellschaft, wenn wir nachsichtiger miteinander umgehen. Wie wir uns darin üben können

Geschenke aus zweiter Hand
Wir kaufen Kleidung, Möbel und Bücher gebraucht – warum nicht auch Geschenke für unsere Liebsten? Dieser Frage geht unsere Autorin nach

Lebenslauf: Isabel Allende
Ihre schwierige Kindheit, ein Leben im Exil, der Tod eines Kindes – all das ließ die chilenische Schriftstellerin nicht aufgeben, sie verarbeitete es in
Geschichten

Reich der Bücher
Unsere Autorin hat sich ihren Traum erfüllt und arbeitet in einer Buchhandlung. Über die Magie von Bücherorten

Vielfalt leben
Viele gute Ideen entstehen, weil manche Menschen anders ticken, sagt Saskia Schepers, Expertin für Neurodiversität. Zeit für einen Perspektivwechsel

Kreative Ideen
Das Bedürfnis, mehr offline zu sein, steigt. Hier kommen 10 Ideen, wie sich die gewonnene Zeit füllen lässt

Süße Weihnachtszeit
In Annalena Bokmeiers Küche herrscht im Dezember Hochbetrieb: Hier verrät sie fünf ihrer liebsten Backrezepte

Porträt: Catherine Deneuve
Sie ist eine der strahlendsten Figuren des französischen Kinos, unabhängig und frei. Über ihr bewegtes Leben

Festlicher Budenzauber
Der Winter in Kopenhagen kann lang sein. Umso mehr freut sich Emma Sylvest Krab-Johansen, ihre Wohnung ab dem ersten Advent zu dekorieren

Zusammen still
Auf Silent Discos oder beim Silent Walking trifft man andere, ohne sich mit ihnen zu unterhalten. Was das Schweigen in Gesellschaft bewirkt

Balance finden durch Yoga
Wie wir dank Yoga gelassen durch die Festtage kommen, erklärt die Neurowissenschaftlerin Svenja Borchers

Ständig krank?
Dauernde Infekte können auch seelische Ursachen haben. Was uns hilft, gesund durch den Winter zu kommen

✂️ Papierextra: 365-Tage-Bastel-Kalender

Das Titelbild hat die Illustratorin Marisa Dengate gestaltet. Wir wünschen dir viel Freude beim Lesen und Entdecken!

LESEPROBEN aus der neuen FLOW

FLOW Nummer 94

So gelingt ein gutes miteinander

Viele von uns sind heute schnell genervt von ihren Mitmenschen, fällen härtere Urteile, der Ton ist ruppig, besonders in den sozialen Medien. Dabei würde es uns stärken, wenn wir nachsichtiger wären – als Gemeinschaft, aber auch für uns selbst, wie Christiane Würtenberger herausgefunden hat. Wie wir das üben können – gerade auch für die Weihnachtszeit

Wir feiern im Restaurant den Geburtstag meines Vaters nach. Und meiner Stiefmutter passt an diesem Abend nichts.
Sie habe keinen Hunger, erklärt sie und bestellt nur eine Kleinigkeit. Als sie ihre Vorspeise aufgegessen hat, steht sie abrupt auf und sagt, es sei ihr zu laut. Sie gehe jetzt lieber nach Hause. Und das tut sie auch, ohne sich richtig zu verabschieden. Mein Vater ist perplex und schaut unglücklich drein. Und ich? Bin sauer. Wie kann man sich nur so benehmen?

Rückblickend ist mir natürlich klar, dass mein Ärger die Situation nicht besser gemacht hat. Ich habe ihm Luft gemacht, statt für meinen Vater da zu sein. Außerdem war der Rest des Abends für mich gelaufen, denn meine Laune war im Keller. Im Hinblick auf die Weihnachtszeit frage ich mich, wie ich Familienfeste besser überstehe. Wie kann ich freundlich und gelassen sein? Wie kann ich Empathie üben und trotzdem klare Grenzen ziehen? Bei meinen Recherchen stoße ich auf das Buch von Sina Haghiri. Es heißt Mit Nachsicht. Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann.

GELASSEN BLEIBEN
Das finde ich spannend. Denn es geht mir nicht nur um familiäre Konflikte. Auch im Alltag und in den sozialen Netzwerken begegnen uns oft Leute, über die wir uns aufregen. Der Ton ist vor allem in der digitalen Welt oft ruppig. Man ist lautstark und (ver)urteilt schnell. Gerade deshalb wünscht sich der Psychotherapeut Sina Haghiri mehr Nachsicht auf allen Ebenen. Sie stärke uns selbst, unsere Verbindung mit anderen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber Haghiri sagt auch: „Nachsicht ist anstrengend. Sie setzt voraus, dass ich die Empathie aufbringe, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen. Und dass ich über die Beweggründe seines Verhaltens ein mildes Urteil fälle.“ Dafür braucht es, so der Experte weiter, einige Werkzeuge: Energie, Kreativität und manchmal auch Mut. Einfacher ist eine solche Haltung, wenn es mir gut geht, erklärt Sina Haghiri, wenn ich nicht gerade gestresst, überfordert und müde bin. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum uns Nachsicht derzeit schwerfällt – angesichts eines hohen Tempos im Alltag und anhaltender politischer Krisen. Es gibt dazu sogar eine Studie vom Harvard-Psychologen Daniel Gilbert, erzählt der Psychologe: Menschen fällen härtere Urteile über andere, wenn sie abgelenkt sind und unter Druck stehen. Vielleicht eskalieren Heiligabende deshalb oft, weil wir so gestresst am Weihnachtsbaum zusammenkommen?

Auch ich fühle mich ein bisschen ertappt: Zur Feier meines Vaters bin ich nach einer Woche voller Termine in großer Hektik gefahren. Ob der laute Italiener ums Eck der passende Ort für die Feier sein würde, darüber habe ich nicht wirklich nachgedacht. Natürlich hätte ich das im Vorfeld mit meinem Vater in Ruhe besprechen können – vor allem da meine Stiefmutter ihre Bedenken gegen zu viel Trubel durchaus geäußert hatte.

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