Alle Artikel von Nora Backhaus

Dörte Kelm – Die Menschen

Was machst du gerade?

Dörte Kelm

× 47 Jahre  ∇ Bardowick  ♥ mit Freund und Sohn
→ Designerin
>> fientuech.de <<

Was machst du gerade?

Ich arbeite an neuen Motiven für meine Furoshiki-Tücher und lege im Moment die Farbwelten fest. Es wird eine grafische und eine florale Linie geben.

Was bedeutet Furoshiki?

Furoshiki bezeichnet ein quadratisches Stück Stoff, das man in Japan seit Jahrhunderten für jeden denkbaren Anlass nutzt. Man knotet die Ecken so zusammen, dass sich die Form ergibt, die man gerade braucht: ein Stoffbeutel, eine Geschenkverpackung, ein Tischtuch oder eine Tasche für Proviant. Statt Papier und Plastik zu verwenden und danach wegzuwerfen, wickelt man die Dinge in ein Tuch. Das sieht schön aus und lässt sich viele Male benutzen.

 „Wertschätzung für Materialien, Zeit und Menschen macht zufrieden.“ 

Wie bist du dazu gekommen, diese Tücher anzufertigen?

Vor zwei Jahren zog ich mit meiner Familie von Bayern zurück in den Norden Deutschlands, wo ich aufgewachsen bin. Das war wie ein Neuanfang für mich. Auch beruflich brachte mich der Umzug auf neue Ideen. Als ich in einer Zeitschrift etwas über japanische Furoshiki-Tücher und ihre alte Tradition las, wusste ich: Das ist es! Ich arbeite gern mit Textilien und hatte Lust, eigene Motive zu entwerfen. Vor allem aber hat mich die Tatsache begeistert, dass man mit einem einzigen Tuch so viele Möglichkeiten hat. Diese Idee möchte ich in die Welt hinaustragen, weil ich mich selbst so darin wiederfinde. 

Inwiefern?

Ich möchte keinen Ballast um mich haben, sondern nur das, was wichtig ist. Lieber besitze ich eine Sache, die wertig ist und mich lange begleitet, als dass mich zig Dinge wahllos umgeben. Das klingt minimalistisch, doch Minimalistin bin ich gar nicht unbedingt. Mir geht es um Wertschätzung: von Materialien, Zeit und Menschen, von Erinnerungen und Freundschaften. Ich glaube, dass sie das Leben zufriedener macht, auch für kleine Dinge wie ein Stück Stoff. Vor Kurzem haben mein Sohn und ich auf einem Spaziergang zum ersten Mal einen Eisvogel gesehen. Es war nur ein flüchtiger Moment, doch er hat uns viel bedeutet. Daran werden wir uns lange erinnern.

Text: Sarah Klüß, Jana Luck, Fotos: Catharina Marchio Photographie (Porträt), Dörte Kelm

 
 

Claudia Simon – Die Menschen

Was machst du gerade?

Claudia Simon

× 37 Jahre  ∇ Magdeburg  ♥ mit ihrem Freund und zwei Hunden
→ Upcycling-Künstlerin
>> meinhood.shop <<

Was machst du gerade?

Ich konzipiere eine Online-Ausstellung. Bei der Vernissage werde ich die Leute durch einen virtuellen Raum mit meinen Werken führen und ihnen etwas zu den Bildern erzählen. Ich hoffe, dass sich viele Leute zuschalten. Ich glaube, junge Menschen haben manchmal Hemmungen, in eine Galerie hineinzugehen, und auf diesem digitalen Wege können sie sich in Ruhe umschauen.

Du kreierst Stickbilder und Graffiti auf altem Holz. Wie kamst du dazu?

Eigentlich habe ich Kunstpädagogik studiert und als Lehrerin gearbeitet. Vor sechs Jahren habe ich mir aber bei einer Fernreise mehrere Infektionen zugezogen und bin, als Folge, am Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) erkrankt. Seitdem gibt es Tage, an denen es mir schwerfällt, überhaupt aufzustehen, mehrere Jahre kämpfte ich zudem mit Depressionen. Irgendwann nahm ich ein altes Tischtuch meiner Großmutter und bestickte es mit dem Gesicht einer lächelnden Frau. Seitdem habe ich im Sticken etwas gefunden, das mich kreativ erfüllt, ohne mich zu sehr anzustrengen.

 „Durch die kreative Arbeit bin ich endlich zur Ruhe gekommen.“ 

Wie hat sich dein Leben durch die Krankheit verändert?

Ich bekomme eine Rente und führe im Vergleich zu Freunden das Leben einer Schnecke. An guten Tagen ist mein Akku vielleicht zur Hälfte aufgeladen und ich schaffe einen langen Spaziergang und etwas zu werkeln. Manchmal reicht die Kraft gerade, mit den Hunden vor die Tür zu gehen. Ich sehe das aber nicht länger als Schwäche, sondern akzeptiere, dass meine Oma manchmal agiler ist als ich.

Was hast du noch gelernt?

Dass es irgendwie immer weitergeht – und wir manchmal nur unser eigenes Tempo oder Thema im Leben finden müssen, statt uns vor allem der Gesellschaft anpassen zu wollen. Und dass Kunst uns viel Mut geben kann. Ich verwende zum Beispiel oft Motive von Frida Kahlo, weil mich ihre Lebensgeschichte bestärkt hat. Das würde ich auch gerne anderen Menschen weitergeben. Vielleicht auch bald in kleinen Workshops.

Text: Vivian Alterauge, Sarah Klüß, Jana Luck Fotos: Privat 

 
 
 
 

Christine Prechsl – Die Menschen

Was machst du gerade?

Christine Prechsl

× 35 Jahre  ∇ München  ♥ mit Freund Michi
→ Therapeutin und Gründerin der Munich Mountain Girls
>> munichmountaingirls.de <<

Was machst du gerade?

Ich träume von einem Aufenthalt auf den Lofoten. Gerne würde ich von dort aus arbeiten und so viel Zeit wie möglich in den Bergen verbringen. Die habe ich da direkt vor der Haustür. Für die Munich Mountain Girls haben mein Team und ich gerade ein Onlineforum entwickelt, bei dem Frauen digital neue Bergfreundinnen kennenlernen können

Wer sind die Munich Mountain Girls?

Das ist eine Gemeinschaft von bergbegeisterten Frauen jeden Alters, die ich vor fünf Jahren gegründet habe. Ich wollte Gleichgesinnte treffen und sie miteinander vernetzen, und es funktioniert: In unserer Facebook-Gruppe sind wir inzwischen 12000 Mitglieder, die von überall in Deutschland kommen. Die Frauen tauschen sich zu Equipment, Touren und aktuellen Bedingungen aus und verabreden sich, um in die Berge zu gehen

„In den Bergen lernt man, mit Herausforderungen umzugehen.
Das stärkt für den Alltag.“

Weshalb speziell für Frauen?

Ich habe das Gefühl, Frauen sind untereinander anders. Sie halten zusammen, unterstützen sich und wollen gemeinsam etwas erreichen. Sie trauen sich mehr zu. Wenn Männer dabei sind, denken Frauen manchmal automatisch, dass sie langsamer sind oder weniger Kraft haben, das entmutigt nur. Deshalb bleiben wir bei den Munich Mountain Girls unter Frauen. Es sind schon viele tolle Freundschaften daraus entstanden. 

Was fasziniert dich an den Bergen?

Ich bin gerne draußen, am liebsten den ganzen Tag. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, packe ich meine Wandersachen oder mein Rennrad ein und starte auf eine Tour. Man sagt, der Berg spiegelt dich, und es stimmt: In den Bergen spüre ich unmittelbar, wie es mir geht. Wie gehe ich mit Herausforderungen um, traue ich mir etwas zu, komme ich aus meiner Komfortzone heraus? Zeit in den Bergen stärkt für den Alltag. Da hat man auch mal ein blödes Meeting im Job, ist mit Ängsten konfrontiert oder spürt bei sich einen Widerstand. Und erkennt: Wenn man einen Schritt nach dem anderen geht, so wie auf einer Bergetappe, findet man immer eine Lösung.

Text: Vivian Alterauge, Sarah Klüß, Jana Luck, Fotos: Michael Reichelt, Christine Prechsl, Julian Rohn www.julianrohn.com 

 
 

Kreative Selfies – Die Zeit

Social Media

Kreative Selfies

Die #ToonMe Challenge lockt Kreative auf der ganzen Welt vor die Kamera. Was steckt dahinter?

In den sozialen Netzwerken tauchen seit einigen Monaten immer neue Beiträge unter dem Hashtag #toonmechallenge auf. Frauen und Männer laden Selfies von sich hoch. Zur Hälfte sind diese jedoch kunstvoll entfremdet: Bestandteile des ursprünglichen Fotos werden mithilfe von digitalen Zeichenprogrammen nachempfunden, Kleidung, Hintergrund und Utensilien wie Ohrringe oder eine Sonnenbrille hinzugedichtet. Daraus ergibt sich ein illustriertes Selbstporträt – zumindest zur Hälfte.

Ich als Cartoon

Einer der Ersten, der zur #ToonMe Challenge aufrief, war der mexikanische Illustrator René Córdova (@rene_cordova). An seinem Schreibtisch entwirft er regelmäßig neue ­Comicfiguren, unter anderem für den amerikanischen Verlag Marvel. Eines Tages kam er auf die Idee, ein Selfie von sich als Vorlage zu nutzen. Im Januar dieses Jahres veröffentlichte er auf seinem Instagram-Account ein Selbstpor­trät, das zur Hälfte ein Foto, zur Hälfte gezeichnet war, und versah es mit den Worten #toonme und #challenge. Dass er mit seinem spontanen Kreativprojekt den Anstoß für ­eine ganze Welle origineller #ToonMe-Posts liefern würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht: „Ich hätte ­niemals damit gerechnet, dass sich so viele Leute an #ToonMe beteiligen“, sagt René.

„Es ist toll, die Künstler hinter den schönen Zeichnungen zu sehen.“

Inzwischen findet man allein auf Instagram fast 250000 Bilder zu #ToonMe. Keines gleicht dem anderen: Manche sind verblüffend realistisch gezeichnet, andere farbenfroh, verspielt oder abstrakt wie ein Comic, wieder andere ­greifen auf einen minimalistischen Zeichenstil zurück. Es gibt keine Regeln oder Vorgaben, und jeder, der mitmacht, kann seine eigenen Ideen einbringen. Diese Offenheit macht den Bilderwettbewerb so vielfältig und lebendig.

Zur Hälfte fantasie

Vielleicht gefällt #ToonMe vielen auch deshalb so gut, weil es Kreative und Künstlerinnen vor die Kamera lockt, die sonst in erster Linie ihre Werke zeigen. Illustratorin Sara Faber (27, @sarafaber_) aus Berlin ist eine von ihnen. Sie sagt: „Die Idee von #ToonMe mochte ich gleich sehr. Man hat ja normalerweise selten ein Bild vor Augen, wer hinter all den schönen Zeichnungen auf Instagram steckt. Einmal den echten Künstler zu sehen und wie er oder sie sich selbst zeichnet, finde ich interessant.“ Sara selbst hat ebenfalls einen Beitrag zur #ToonMe Challenge hochgeladen und damit die Gelegenheit genutzt, sich der Gemeinschaft zu zeigen.

Und noch etwas ist außergewöhnlich an #ToonMe: Die Kunstwerke, die dabei entstehen, erzählen mehr über die fotografierte Person als ein gewöhnliches Selfie. Bloggerin Magdalena Armata (30, @polenkapl) etwa hat ihre Leidenschaft für Blumen zum Thema ihres #ToonMe-Bildes gemacht. Die gebürtige Polin lebt in der Schweiz und betreibt dort den DIY-Blog Polenka. Polenka ist gleichzeitig auch ihr Spitzname: „Das steht im Polnischen für Feldblumen und Wiesen. Ich finde, die Natur bringt die schönsten Muster hervor. Das wollte ich auf meinem Bild unbedingt auch zeigen“, sagt sie.

Auch Illustratorin Svetlana Shendrik (33, @svetalugreen) aus Rjasan in Russland hatte Spaß daran, sich zur Abwechslung mal selbst zu zeichnen. Sie wählte ein Urlaubsfoto und sagt: „Es erinnert mich an die Ferien und eine wunderbare Zeit am Meer.“ #ToonMe habe ihr außerdem gezeigt, wie viele Gleichgesinnte es auf der ganzen Welt gibt, die sich gegenseitig stärken und unterstützen.

Text: Sarah Klüß,
Selfies: @courtneyahndesign @svetalugreen @lacrime_di_colori @franzizo @adriannewalujo.o @tessalloyd @sarafaber_ @alice__chevalier @haras.nitram @michelullen @atogrzywa @polenkapl @lybertinn @conniegabbert @angelacristie

Die neue Lust am Radfahren – Die Zeit

Zeitgeist

Die neue Lust am Radfahren

Die Nachfrage nach Fahrrädern ist so groß wie nie: In der Pandemie haben viele Menschen das Radfahren für sich entdeckt. Es ist gut für uns und das Klima und es macht glücklich. Woran liegt das?

Mühelos rollt mein Rad über den Asphalt. Ich trete gleichmäßig in die Pedale, spüre den Wind im Gesicht und nehme ein paar tiefe Atemzüge. Hier, inmitten von Pferdekoppeln und Wäldern, fühle ich es: ein kleines Stück Freiheit. Abstandsregeln und Maskenpflicht sind für eine Weile vergessen, denn außer ein paar Spaziergängern treffe ich hier draußen niemanden. 

Illustration: Sharon Montgomery by Advocate Art

Rad gefahren bin ich schon immer gern, doch das vergangene Jahr hat etwas verändert. In einer Zeit, in der sich mein Bewegungsradius durch Lockdown und Homeoffice über Monate auf mein Wohnviertel beschränkte, wuchs in mir die Sehnsucht nach Bewegung und Weite. An einem Samstagmorgen holte ich mein Rad aus dem Keller, steuerte Richtung Elbe und sitze seitdem regelmäßig im Sattel.

So wie ich entdeckten im Corona-Jahr viele Menschen das Fahrrad für sich. Von einer Trendwende in der Mobilität, einer Velorution, ist sogar die Rede. Ich frage mich: Warum macht das Radfahren glücklich? Fest steht: Corona hat der mehr als 200 Jahre alten Fortbewegungsform eine neue Bedeutung verliehen. Fitnessstudios und Sportvereine mussten vorüber-gehend schließen, Berufspendler mieden den öffentlichen Nahverkehr aus Angst vor Ansteckung, und weil auch Urlaubsreisen nur stark eingeschränkt planbar waren, stieg das Interesse an Radreisen in Deutschland.

AUF PLATZ EINS

Das Fahrrad steht seitdem als Fortbewegungsmittel und Sportgerät auf Platz eins. Die Folge: lange Schlangen vor Fahrradläden, leer gekaufte Lager und Wartezeiten auf ein neues Rad von mehreren Monaten. Die Umsätze der Fahrradbranche stiegen allein im vergangenen Jahr um rund 20 Prozent. E-Bikes mit integriertem Elektromotor, Lastenräder und faltbare Citybikes haben es aus der Nische herausgeschafft und sind in städtischen Gebieten inzwischen eine echte Alternative zum Auto. Neue Fahrradläden haben mit den vollgestopften Miniwerkstätten von einst nichts mehr zu tun – stattdessen gibt es dort fairen Kaffee, Magazine und tolle Räder zu kaufen. Flexible Sharing- und Mietmodelle wie Stadträder oder die holländischen Swapfiets mit dem markanten blauen Vorderreifen ermöglichen auch Menschen das Radfahren, die nur ab und zu damit unterwegs sind oder sich um die Wartung und Reparatur keine Ge-danken machen wollen.

„Es gibt nichts Schöneres, als einen Hügel hinunterzusausen
und den Fahrtwind im Gesicht zu spüren.“

Das Radfahren ist eine Lebenseinstellung geworden, und auch politisch bewegt sich was: Weltweit denken Städte ihre Verkehrsstrategie neu und diskutieren eine Umverteilung des vor-handenen knappen Raums. Im kolumbianischen Bogotá wurden während des ersten Lockdowns auf einer Strecke von mehr als 100 Kilometern temporäre Fahrradspuren eingerichtet, um den öffentlichen Nahverkehr zu entlasten und den gebotenen Abstand zu ermöglichen. Auch New York, Budapest, Paris, Hannover und Berlin sperrten als Reaktion auf den gestiegenen Radverkehr Fahrstreifen für Autos und richteten sogenannte Pop-up-Radwege ein – manche davon bleiben dauerhaft. Städte wie Amsterdam und Kopenhagen sind ohnehin seit Jahren Beispiele für eine vorbildliche Fahrradpolitik.

Eine vollbremsung

Dass so viele Menschen das Rad als gesundheits- und klimafreundliche Alternative entdecken, begrüßt die Nachhaltigkeitsforscherin und Psychologin Prof. Dr. Sophia Becker von der Technischen Universität Berlin. Sie untersucht zusammen mit ihrer Forschungsgruppe, wie die Verkehrswende in einer Metropolregion wie Berlin gelingen und durch praktikable Lösungen unterstützt werden kann. Sophia Becker sagt: „Radfahren war schon vor Corona ein großer Trend. Die Pandemie hat sich zusätzlich enorm positiv darauf ausgewirkt. Wir mussten binnen kürzester Zeit mit radikalen Veränderungen unseres Alltagslebens reagieren, das ganze Land hat im letzten Frühjahr eine Vollbremsung gemacht. Das bedeutete vor allem: weniger Konsum, weniger Reisen, weniger Arbeit im Büro und stattdessen Homeoffice.“

Der Autoverkehr in Berlin ging zwischenzeitlich um 25 Prozent zurück, die Radwege waren voll. Auf den Klimaschutz wirke sich das positiv aus, zumindest kurzfristig, sagt die Psychologin. Es finde ein Umdenken statt, doch diese Veränderungen seien bisher nur temporär: „Ich sehe die Pandemie als große Chance, dass wir als Gesellschaft ein umweltfreundlicheres Verkehrsverhalten entwickeln und dauerhaft mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen.“ Die wichtigste Voraussetzung dafür liege jedoch in der Verantwortung der Politik, die flächendeckend eine sichere Radinfrastruktur schaffen und den Autoverkehr und seine Privilegien stärker aus den Städten zurückdrängen müsse.

Wagemutige Mäuse

Das Fahrrad ist ein Klimafreund – doch es leistet mehr für uns, als unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. „Radfahren verändert unsere Sicht auf die Welt“, schreibt Herausgeber Peter Reichenbach in dem Band Die Philosophie des Radfahrens. „Und fast immer geht dieser neuen Sichtweise ein Schlüsselerlebnis auf dem Fahrrad voraus: Das kann das Meistern einer Bergetappe bei der Tour de France sein, die Teilnahme an einer Critical-Mass-Demonstration oder auch einfach die tägliche Fahrt zur Arbeit gegen Wind, Regen, Hitze und Verkehr.“

„Das Fahrrad ist ein Türöffner für Abenteuer. Ich fahre morgens los
und weiß nicht, was mich erwartet.“

Solch ein Schlüsselerlebnis hatte auch die Berlinerin Daniela Pensold (39), als sie vor sechs Jahren auf eine Fernradreise von Berlin nach Kopenhagen aufbrach. „Bis dahin war ich höchstens 20 Kilometer am Tag gefahren. Ich startete völlig blauäugig und konnte nicht mal einen Reifen wechseln. Unterwegs hatte ich drei Pannen, aber ich fand zum Glück immer jemanden, der mir half.“ Auf dieser Tour ist ihre Leidenschaft für das Reisen mit dem Rad gewachsen und mittlerweile zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. „Das Gefühl, 650 Kilometer mit meiner eigenen Muskelkraft zurückgelegt zu haben, hat mich unheimlich berauscht“, erinnert sie sich.

Auf ihrem Weg nach Dänemark verliebte Daniela sich nicht nur ins Radfahren, sondern auch in die Landschaften Brandenburgs, die sie heute an den Wochenenden so oft es geht ansteuert. Auf ihrem Blog wecyclebrandenburg erzählt sie von ihren Radgeschichten und Erlebnissen aus dem Berliner Umland. „Ich möchte mehr Menschen dazu ermutigen, die Region auf Tagesausflügen auf eigene Faust zu entdecken. Radfahren in Brandenburg ist nicht besonders anspruchsvoll, die Landschaft ist weitestgehend flach bis hügelig und es gibt ein gut ausgebautes Radwegenetz.“ Am meisten beeindruckt sie aber die Vielfalt, die sie gerne mit ihrer Kamera festhält: „Die Uckermark ist ganz anders als die Prignitz oder das Havelland. Meine Touren führen durch urwaldartige Wälder, vorbei an romantischen Tälern und Streuobstwiesen, restaurierten Feldsteinkirchen, alten Wassertürmen und verfallenen Fabrikgeländen“, sagt sie. Ab und an veranstaltet Daniela auch Gruppenradtouren mit acht bis zehn Teilnehmern. Sie legt die Tagesroute fest, sucht Zugverbindungen zum Startpunkt heraus und plant Zwischenstopps bei Hofläden, Imkern, Obstbauern oder in einem Atelier ein: „Es erweitert den eigenen Horizont ungemein, wenn man sich Zeit nimmt, die Menschen hier kennenzulernen“, sagt sie. Die Teilnahme ist kostenlos, die Plätze sind innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.

Luft auf den Reifen

Dass das Radfahren für immer mehr Menschen eine beliebte Freizeitbeschäftigung ist, freut Daniela. Dem Wetteifer des Handels um neueste Modelle und hochpreisiges Zubehör steht sie jedoch gelassen gegenüber: Sie fährt im Alltag ein in die Jahre gekommenes Vintage-Herrenrad und findet: „Die Freude am Fahren hängt nicht vom Rad ab. Hauptsache, es hat Luft auf den Reifen. Man lässt sich schnell einschüchtern von einem perfekten Fahrrad und teurer Ausrüstung. Aber man muss kein ausgestatteter Tourenradler sein, um schöne Erlebnisse auf dem Rad zu haben. Wenn ich von meinen Ausflügen nach Hause komme, habe ich viel gelernt und fühle mich mit all meinen Sinnen befriedigt“, erzählt sie.

Für den Hamburger Fahrradberater und Betriebssportweltmeister im Straßenradsport Philip Kaczmarowski (37) ist das Fahrrad ein Türöffner für Abenteuer. Als er das Gefühl hatte, beruflich in einem Hamsterrad zu stecken, nahm er sich eine Auszeit und plante eine Radreise von Istanbul nach Hamburg. „Ich wollte ausprobieren, wie es ist, allein unterwegs zu sein und auf dem Fahrrad andere Länder und Kulturen kennenzulernen“, erzählt er.

Jeder Tag auf dieser Reise war eine Fahrt ins Ungewisse: Nach dem Frühstück setzte sich der Ingenieur auf sein Rad, ohne zu wissen, was ihn als Nächstes erwartet. „Einmal startete ich morgens bei 30 Grad in Griechenland und landete bei Minus zehn Grad und Schneetreiben in Nordmazedonien“, sagt Philip Kaczmarowski. Die Eindrücke seiner Reise begleiten ihn bis heute: „Ich bin dadurch unheimlich offen für Veränderungen geworden. Ich habe keine Angst vor Neuem und weiß: Egal, was kommt, ich finde auf jeden Fall eine Lösung.“

Eine kleine Veränderung

Wie wir uns fortbewegen, bewegt etwas in uns. Der isländische Philosophieprofessor Robert H. Haraldsson wagte ein Experiment und tauschte sein Auto gegen ein Fahrrad ein. In einem Essay in Die Philosophie des Radfahrens schreibt er: „Fast immer komme ich klarer, um nicht zu sagen mutiger bei der Arbeit an. Auf dem Heimweg bin ich in der Lage, mich zu entspannen, wenn ich einen stressigen Tag hatte. Was ich aber neben den vielen Gedanken am meisten am Pendeln mit dem Rad mag, ist die Zeit, die ich draußen verbringe – im Angesicht der Elemente. Ich hatte völlig vergessen, wie viel Zeit ich als Kind draußen verbracht hatte und wie langsam und fast unmerklich ich zu einem Menschen wurde, der die meiste Zeit drinnen verbringt, als ein sesshafter Mensch, eine Art Möbelstück. Endlich nahm ich meinen Monolog mit den Sternen und dem Ozean wieder auf. Und ich habe wiederentdeckt, dass ich diese Erde, oder zumindest einen kleinen Teil davon, mit anderen Lebewesen teile, insbesondere mit Insekten, aber auch Vögeln, und hin und wieder werde ich von einer Robbe aus sicherer Entfernung betrachtet. Es ist albern, diese Dinge zu vergessen, aber man tut es; so wie man vergisst, wie veränderlich und vielfältig das Wetter ist.“

Eigentlich ging es Haraldsson vor allem darum, seine These zu bekräftigen. Immer wieder führte er mit seinen Kollegen an der Universität Diskussionen darüber, ob man in Reykjavík – in einem Umfeld, in dem sich das Wetter ständig gegen Radfahrer richtet und wo es kaum Radwege gibt – wirklich alles auf zwei Rädern erreichen kann. Nach einer Weile jedoch entdeckte Haraldsson auf dem Sattel eine neue Art des Denkens und der Wahrnehmung. Und genau das ist seine Botschaft: Bereits eine einfache, kleine Veränderung – nämlich die Art und Weise, wie wir von A nach B kommen – reicht manchmal aus, um zufriedener zu sein.

Wie recht Haraldsson hat, denke ich, als ich mit dem Fahrrad in meine Straße einbiege. Die Nachmittagssonne steht schon tief über meinem Viertel, und ich schaue für einen Moment zufrieden hinauf zu meiner Wohnung – dankbar für diese kleine Veränderung in einer so besonderen Zeit.

Text: Sarah Klüß, Illustrationen: Sharon Montgomery by Advocate Art

Aus dem Bauch heraus – Die Zeit

Wellbeing

Aus dem Bauch heraus

Der Darm ist verantwortlich für die Verdauung. Aber er beeinflusst auch, wie wir uns fühlen, ob wir ängstlich oder mutig sind, fröhlich oder traurig. Und auch andersherum geht es unserem Bauch dann am besten, wenn es uns gut geht

Jetzt mal ehrlich, der eigene Verdauungstrakt war bisher nicht unbedingt ein Thema, über das man sich beim ­Kaffeetrinken mit einer Freundin unterhält. Irgendwie unappetitlich das Ganze. Doch wenn man sich Supermarktregale, Werbeplakate und Bestsellerlisten anschaut, scheint es da einen Wandel zu geben. 

Illustrationen: Eli Martínez @elimartinez.studio

Überall finden sich neue Produkte und Bücher, die uns helfen wollen, unsere Darmgesundheit wieder in Schwung zu bringen und unser Wohlbefinden zu steigern. Auch im eigenen Umfeld scheint die Zurückhaltung diesem Thema gegenüber immer mehr zu schwinden. Eine Freundin war erst kürzlich bei einer Darmreinigung und eine Kollegin erzählt, dass ihre Psychotherapeutin ihr empfohlen habe, ihre Verdauung näher zu betrachten, um ihre mentale Gesundheit zu stärken. Ist der Darm wirklich Spiegel unserer Psyche und umgekehrt? Nun gilt es mittlerweile durchaus als erwiesen, dass ein gesunder Verdauungsapparat und ein gesunder Körper unmittelbar zusammenhängen. Aber lässt sich das auch auf einen gesunden Geist übertragen?

Im steten Austausch

„Unser Verdauungstrakt funktioniert ähnlich wie das Gehirn“, sagt der Neurogastroenterologe Thomas Frieling, der mit dem Psychologen Paul Enck und dem Humanbiologen Michael Schemann das Buch Darm an Hirn! geschrieben hat. Das Bauchhirn verfügt demnach nicht nur über dieselben Strukturen, es benutzt sogar dieselben Botenstoffe wie zum Beispiel das Glückshormon Serotonin. Manchmal aber sind die Botschaften, die Hirn und Darm miteinander austauschen, fehlerhaft und führen zu Schmerzen oder auch Missempfinden. „Verstünde man all das besser, könnten wir Störungen wie das Reizdarmsyndrom schon heute korrigieren“, so Thomas Frieling. Doch selbst das, was wir schon jetzt wissen, sei erstaunlich: „Unser Bauch denkt auf seine Weise, er erinnert sich. Und er kommuniziert mit dem Rest des Körpers.“

„Es kann wirkungsvoller sein, sich in Achtsamkeit zu üben,
als Probiotika zu sich zu nehmen.“

Um diesem Informationsaustausch noch genauer auf den Grund zu gehen, verglich ein internationales Forschungsteam die Darmflora von Patienten mit diagnostizierter ­Depression mit der von gesunden Menschen. Dabei zeigte sich, dass bei den mental gesunden Menschen bestimmte Keime deutlich häufiger vertreten waren als bei der an ­Depression leidenden Vergleichsgruppe. Die Zahlen näherten sich erst dann wieder an, nachdem die Depressiven mit Antidepressiva behandelt worden waren. Die rund 100 Billionen Bakterien unserer Darmflora haben also tatsächlich etwas mit unserem Gemütszustand zu tun. Dieses Ergebnis kommt einer kleinen Sensation gleich. Zwar wird schon seit Längerem eine Beziehung zwischen einer ­gestörten Darmflora und Krankheiten wie Depressionen oder sogar Autismus vermutet, doch so genau wie in dieser Studie konnten die Zusammenhänge bislang noch nicht nachgewiesen werden. Nur eins verrät das Ergebnis noch nicht: Ob sich zuerst die Darmflora verändert und dies die Erkrankung auslöst oder ob die Erkrankung dazu führt, dass die Darmflora gestört ist.

 

Altes Heilmittel

Dass Darmbeschwerden mit der Stimmung zusammenhängen können, hat auch Jennifer Färber entdeckt. ­Nachdem ein Arzt bei ihr während des Studiums eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert hatte, beschäftigte sie sich intensiv mit ihrem Körper. Vor allem mit ihrem Darm. „Ich habe ­lange überlegt, was ich tun kann, damit es mir wirklich besser geht“, sagt sie. Darauf zu achten, welche Lebensmittel sie isst und wann, half ihr sehr, so Jennifer. „Nach meiner Ernährungsumstellung habe ich mich viel klarer ­gefühlt, fokussierter. Irgendwie wie angeschaltet und ins­gesamt glücklicher.“ Dabei entdeckte Jennifer ein ganz ­eigenes Mittel, das ihrer Gesundheit bis heute guttut: Kombucha. Ein Getränk aus fermentiertem Tee. Kombucha war schon immer Teil ihrer Familientradition: Ihre Großmutter braute ihn selbst. „Das Getränk kommt aus Asien und wurde auch im angrenzenden Russland bekannt“, sagt ­Jennifer. Und dort wuchs ihre Großmutter auf. „Für mich war es aber lange nichts weiter als eine leckere Erfrischung.“ Erst als Jennifers Darmbeschwerden zunahmen und sie ihre Ernährung genauer unter die Lupe nahm, merkte sie, wie gut Kombucha ihrem allgemeinen Wohlbefinden tat. Seitdem schwört sie darauf: „Er ist einfach gut für mein Bauchgefühl.“ Um diese Erkenntnis auch mit ­anderen zu teilen, gründete sie vor drei Jahren ihr eigenes Start-up in Hamburg: Rho Kombucha. Ihr Getränk kann man jetzt in ganz Deutschland kaufen.

Wagemutige Mäuse

Das Gesunde an speziell eingelegten Lebensmitteln wie Kombucha sind die Milchsäurebakterien. Diese halten nicht nur den Darm fit, sie unterstützen auch die Verdauung und stärken den ganzen Verdauungstrakt. Einige ­Wissenschaftler sind sogar davon überzeugt, dass solche Probiotika Einfluss auf unsere Gefühlswelt nehmen können. 2013 veröffentlichte der Gastroenterologe und Neu­rowissenschaftler Emeran Mayer an der University of ­California in Los Angeles eine Studie, die zumindest nahelegt, dass an dieser These etwas dran sein könnte: Der Wissenschaftler ließ Frauen vier Wochen lang regelmäßig probiotischen Joghurt essen. Dabei zeigte sich, dass bei ihnen bestimmte Hirnregionen schwächer auf negative Reize reagierten als bei Versuchspersonen, die nur normalen Joghurt gegessen oder sich wie bisher ernährt hatten.

In einem anderen Experiment verabreichten Forscher einer ängstlichen Rasse von Mäusen Antibiotika, die ihre Darmflora durcheinanderbrachten. Daraufhin verhielten sich die Tiere plötzlich wagemutig und unternehmungslustig. Mehr noch: Bekamen die Mäuse vor Stresssituationen wiede­-rum ­bestimmte darmfreundliche Probiotika gefüttert, schütteten sie beim Versuch, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, weniger Stresshormone aus als ohne die hilfreichen Mikroorganismen. „Es gibt einige Probiotika, die ­tatsächlich eine Wirkung erzielen, manche sogar auf die Stimmung“, sagt Emeran Mayer heute über seine Forschung. „Das gilt allerdings nicht für die Darmprodukte, die wir aus dem Supermarkt kennen. Etwa 90 Prozent davon beruhen auf keiner wissenschaftlichen Grundlage.“ Mayer ist überzeugt, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird. „In 20 Jahren kann man vielleicht individuell ­zugeschnittene Darmbakterien verteilen, die Schwachpunkte im eigenen System reparieren.“ Aber so weit ist die Forschung noch nicht. Anwendungen wie Darmsanierungen lehnt er deshalb als unwirksam ab.

Bakterien pflegen

Nun lassen sich Experimente an Mäusen natürlich nicht ­direkt auf uns Menschen übertragen. Dennoch kann man aus den bisherigen Erkenntnissen eine zentrale Aussage herausfiltern: Was unserer Darmgesundheit und auch unserer Psyche nachgewiesenermaßen hilft, sind die Dinge, die wir selbst am besten beeinflussen können. Das sagt auch Emeran Mayer: „Letztlich brauchen wir in der Regel keine teuren Darmprodukte, wenn wir uns ausreichend ­bewegen, gesund und vielfältig ernähren und Stressfaktoren reduzieren.“ Am gesündesten sei der Darm, wenn ihn viele verschiedene Mikrobenarten besiedeln. Je nachdem, was wir essen, pflegen wir bestimmte Bakterien. Und jede verdaut gerne etwas anderes. „Wer viele verschiedene Bakterien möchte, der sollte viele verschiedene Sorten Obst und Gemüse essen. Also ballaststoffreiche Nahrungsmittel – denn nur die schaffen es überhaupt in den Dickdarm“, so Mayer. Denn dort sitzen die meisten Mikroben. Mayer empfiehlt mediterrane Kost. Und weniger Stress: „Es kann deutlich wirkungsvoller sein, Achtsamkeitstechniken zu lernen, als Probiotika zu schlucken. Denn ist der Körper permanent im Stressmodus, helfen auch die beste Ernährung, die teuersten Pillen oder Sport nichts mehr.“

„Wir selbst können am besten spüren, was gut für uns ist.“

Das hat Nadine Hüttenrauch am eigenen Körper erfahren. Noch vor wenigen Jahren arbeitete sie als Unternehmensberaterin, war ständig unterwegs. An einigen Abenden ­waren Erdnüsse aus der Hotelbar ihr Abendessen. „Ich war ständig gestresst“, sagt Nadine heute. Immer deutlicher merkte sie damals, wie schlecht es ihr ging. „Ich musste aufstoßen, hatte Bauchkrämpfe, fühlte mich schlapp.“ ­Nadine beschloss: So geht es nicht weiter. Sie stellte ihre Ernährung um, erst auf vegetarisch, dann ließ sie auch die meisten Milchprodukte weg, verzichtete auf Gluten und ­reduzierte Kohlenhydrate. „Mir ging es viel besser. Nicht nur meinem Bauch. Sondern auch meiner Seele.“ Doch ­irgendwann kippte das Gefühl. „Ich hatte mir so viele ­Regeln ums Essen aufgebaut, dass es kaum noch Lebensmittel gab, die mir gefühlt kein Unwohlsein bescherten“, erzählt Nadine. „Ich verlor völlig die Freude am Essen.“

„Wir wissen mittlerweile, dass das Bauchhirn genau wie unser Kopf die Voraussetzungen für Lernprozesse hat und sich konditionieren lässt“, sagt Neurogastroenterologe Thomas Frieling. Natürlich gebe es Allergien und Unverträglichkeiten. „Es kann aber auch sein, dass man ­bestimmte Lebensmittel mit unangenehmen Situationen verbindet und der Körper deshalb reagiert. Die Unverträglichkeit ist dann nicht durch das Nahrungsmittel selbst, ­sondern durch die Konditionierung bedingt. Unverträglichkeiten können also gelernt werden.“ Was hilft? „Man muss solche Erinnerungen tatsächlich bewusst überschreiben, unter anderem durch die Kopplung mit angenehmen Situationen“, sagt Thomas Frieling.

Achtsam essen

Nadine Hüttenrauch beschloss, genau das zu tun und alle Regeln fallen zu lassen. Seitdem isst sie vor allem das, was sie glücklich macht: „Wir selbst können am besten spüren, was uns guttut.“ Heute arbeitet sie als Beraterin für achtsame Ernährung. Im Beruf lehrt sie das, was sie für sich selbst, durch eigene Erfahrung und eine Weiterbildung gelernt hat. Wer achtsam essen möchte, solle sich sechs Fragen stellen, sagt Nadine: Was esse ich, wie viel, wie, wann, warum, und woher kommen die Lebensmittel? Es geht also nicht nur darum zu überlegen, was man isst. Sondern sich auch zu fragen: Wie viel brauche ich wirklich? „Beim achtsamen Essen spüre ich das. Ich esse bewusst und höre auf, wenn ich genug habe“, sagt Nadine. Auch die Frage, warum wir gerade etwas essen möchten, sei wichtig. „Manchmal versuchen wir, andere Bedürfnisse mit Essen zu verdecken“, sagt sie. „Brauche ich gerade Schokolade oder eigentlich ein bisschen Zuneigung?“ Wer mit dem achtsamen Essen anfangen möchte, dem rät ­Nadine, es langsam anzugehen. „Anfangs reicht es schon, die ersten zwei, drei Bissen einer Mahlzeit bewusst zu ­genießen. Dann steigert man sich langsam.“

Psyche, Immunsystem und Krankheiten: Es ist nicht nur erstaunlich, was unser Darm alles mitregelt, sondern auch, wie wenig eigentlich über all diese Zusammen- hänge bekannt ist. Wenn man von bestimmten Darm- erkrankungen absieht, spielt unser Verdauungstrakt bislang weder in der durchschnittlichen Hausarztpraxis noch in Psychothera­pien eine Rolle, wenn es um die Diagnose von Krankheiten und deren Behandlung geht. Vielleicht können wir ihn ja wenigstens mit einer aus- gewogenen Ernährung und etwas Achtsamkeit bei seiner täglichen Arbeit unterstützen.

Text: Jana Luck, Yvonne Adamek, Illustrationen: Eli Martínez @elimartinez.studio

Unerwartetes meistern – von Boris Bornemann

Achtsamkeit für jeden Tag

Unerwartetes meistern

Das Leben bringt unerwartete Wendungen mit sich. Manche davon können uns mit Angst und Sorge erfüllen. Wie wir Unsicherheiten positiv begegnen, verrät Boris Bornemann.

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Bei vielen lösen Veränderungen ungute Gefühle aus. Was passiert da innerlich und warum?

Im Laufe der Evolution haben wir Menschen gelernt, wie wichtig es ist, mit unserer Energie zu haushalten. Jede Veränderung kostet aber Kraft. Um gewohnte Bahnen zu verlassen, müssen wir neue Nervenverbindungen anlegen. Das machen wir nur, wenn es wirklich nötig ist. Psychologische Experimente zeigen außerdem: Von zwei völlig gleichwertigen Optionen ziehen Menschen meist die vertrautere vor.

Illustration: Ilenia Zito

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Eigentlich wissen wir doch, dass das Leben nicht planbar ist. Wieso tun wir uns dennoch so schwer, uns auf Unerwartetes einzustellen?

Auf unsichere Situationen reagieren wir von Natur aus mit Unwohlsein. Wird das Essen bis zum Ende der Woche reichen? Ist dieser Platz ­sicher? Ist diese Person vertrauenswürdig? Im Gehirn wird in solchen Situationen das anteriore Cingulum aktiv. Das wiederum hängt eng mit unserem sympathischen Nervensystem zusammen, was unser Herz schneller schlagen lässt, wach macht und die Muskeln aktiviert. Das ist in vielen Situationen nützlich. Wir können die Aktivierung nutzen, um die Situation zu klären. Wenn die Unsicherheit allerdings rein aus unseren Vorstellungen und Fantasien entspringt, können wir durch ­äußeres Handeln nichts lösen. Wir müssen uns nach innen wenden.

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Wie kann ich besser mit Gefühlen von Unsicherheit und Kontrollverlust umgehen?

Ein erster Schritt besteht darin, diese Gefühle zu normalisieren. Wir können uns fragen: Wie viele Menschen erfahren wohl gerade etwas sehr Ähnliches? Wir können dann die Gefühle im Körper erkunden. Wahrnehmen, wo Unruhe ist, wo wir angespannt sind und was wir sonst noch spüren können. Das ist eine grundlegende Form der Zuwendung zu uns selbst. Den Körper zu spüren hilft, destruktive Gedankenspiralen zu unterbrechen und uns auf eine hilfreiche ­Haltung zu besinnen. Wir können sie in einem Satz ausdrücken wie: „Möge ich freundlich und liebevoll mit mir sein.“ Oder: „Möge ich mit Leichtigkeit auf die Situation schauen.“ Wir üben also, das Gefühl der Unsicherheit zu akzeptieren, und wenn es da ist, freundlich mit uns selbst zu sein. 

4

Was brauche ich, um in Zeiten großer Veränderung (wie im Moment) Sicherheit und Vertrauen zu finden?

Gerade in unsicheren Zeiten können nahe Beziehungen einen sicheren Hafen bieten. Es ist also gut, diese Beziehungen zu stärken. Das Gefühl von Geborgenheit hilft dabei, mit den Turbulenzen des Lebens klarzukommen. Genau wie feste Routinen. Ein Morgenritual zum Beispiel mit Yoga, Meditation oder Journaling. Den Fokus auf die eigenen Stärken und Ressourcen zu lenken bietet ebenfalls Sicherheit. Dazu können wir uns verschiedene Fragen stellen: Wofür bin ich dankbar? Was mag ich an mir? Was kann ich gut? Nimm dir Zeit, um die Fragen auf dich wirken zu lassen, dir die Antworten innerlich vorzusprechen oder sie aufzuschreiben. Sich so das Gute im eigenen Leben bewusst zu machen, lässt einen mit mehr Ruhe und Vertrauen in die Zukunft schauen.

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Manche Veränderungen werfen uns völlig aus der Bahn. Inwiefern helfen Meditation und Achtsamkeit dann weiter?

Zunächst geht es darum, mitfühlend mit uns selbst zu sein. Sich zu erinnern, dass diese Umbrüche zum Leben gehören. Dass der Grund dafür nicht immer bei uns liegt. Und dass es normal ist, sich niedergeschlagen oder aufgebracht zu fühlen. Wir können dann in der Meditation genauer untersuchen, was in uns vorgeht, und fragen: Welches Bedürfnis steht hinter meinen Gefühlen? Sehne ich mich nach Geborgenheit, nach Anerkennung, nach Anregung oder Ausdruck? Und was wären jetzt, genau hier und heute, Wege, um dieses Bedürfnis zu ­adressieren? Eine regelmäßige Meditationspraxis hilft sehr. Durch sie entwickeln wir eine grundlegende Gelassenheit; eine Bereitschaft, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und ein Bewusstsein über un-sere Freiheit, es in jedem Moment neu zu gestalten.

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In der Achtsamkeit wird der Fokus sehr auf das Hier und Jetzt gelegt. Was bringt das bei Angst vor Veränderungen?

Der vietnamesische Achtsamkeitslehrer Thich Nhat Hanh sagt: „Die beste Weise, sich um die Zukunft zu kümmern, besteht darin, sich sorgsam der Gegenwart zuzuwenden.“ Wenn wir uns auf den gegenwärtigen Moment fokussieren, sparen wir viel Energie. Wir verlieren uns nicht in Gedanken über mögliche Szenarien, die in der Zukunft eintreffen könnten. Arbeiten uns nicht an etwas ab, das wir ohnehin nicht ändern können. Die Angst ist vielleicht weiterhin da. Aber sie bekommt nicht mehr so viel Gewicht. Wir konzentrieren uns stattdessen auf den einzigen Moment, den wir wirklich gestalten können: Diesen hier. Genau jetzt. Wir fühlen uns klarer und ruhiger. Und zugleich lebendiger und freier.

7

Wie kann ich mich auf anstehende Veränderungen aktiv vorbereiten?

Den Fokus auf den Augenblick zu legen schließt nicht aus, dass ich mich auch mit der Zukunft auseinandersetze. Wir sollten uns dabei allerdings darüber im Klaren sein, dass das alles nur Fantasien sind, die wir uns jetzt gerade machen. Trotzdem können wir den Blick nach vorne positiv nutzen, indem wir uns bewusst in unsere liebste Variante der Zukunft hineinträumen. So empfinden wir Vorfreude statt Angst. Gleichzeitig lernt das Unterbewusstsein, diese positive ­Zukunft für möglich zu halten. Wir ­können uns aber auch in die unbeliebteren Varianten hineindenken und ­dabei bemerken: Selbst wenn etwas Negatives passiert, wäre ich weiterhin ein freier Mensch, der kreativ und mitfühlend mit der neuen Situation um­gehen kann. Manchmal hilft es auch, andere Menschen zu befragen, die bereits Ähnliches erlebt haben, um von ihren Erfahrungen zu lernen. Oder wir fragen uns einfach selbst: Was ist das größte Potenzial dieser Veränderung? Was kann ich lernen? Was kann ich loslassen?

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Viele Veränderungen haben letztlich etwas Positives. Wie gelingt es mir, das zu sehen?

Wir können einmal darüber nachdenken, wie es wäre, wenn immer alles gleich bliebe. Dann merken wir schnell, dass ein gewisses Maß an Veränderung durchaus angenehm ist, selbst wenn sich das in dem jeweiligen Moment nicht immer so anfühlt. Vielleicht fühlen wir gerade Wachstumsschmerzen. Aber in der Regel ist es genau dieser Wandel, der uns am Ende dabei hilft, über uns hinauszuwachsen. Um das zu verstehen, hilft es, sich für einen Moment sich selbst zuzuwenden. Wir können uns zum Beispiel fragen: Welche Fähigkeiten erlerne ich gerade? Um welche schöne oder abenteuerliche Geschichte werde ich reicher? Wir können uns auch an der Gewissheit erfreuen, dass alles Unangenehme irgendwann vorbeigeht. Das Wichtigste aber ist die Fähigkeit, loszulassen und uns mit einem offenen Herzen, mit Leichtigkeit und Vertrauen in den Strom des Lebens fallen zu lassen.

Illustration: Ilenia Zito, Julia Baier (Porträt)

Innere Stärke finden – Bornemann

Achtsamkeit für jeden Tag

Innere Stärke finden

Häufig sind wir uns unserer Ressourcen gar nicht bewusst. Wir sehen nur das, was uns behindert. Wie uns Achtsamkeit in solchen Momenten helfen kann, sagt Boris Bornemann.

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Warum fällt es uns oft so schwer, an unsere eigene Kraft zu glauben und sie zu aktivieren?

Oft werden bereits in der Kindheit durch Erziehung oder den Kontakt mit anderen Glaubenssätze erworben, die uns im Weg stehen: Ich darf nicht laut sein, nicht auffallen, sollte meinen eigenen Willen zurückstellen. Aber auch kulturelle Stereotype beeinflussen uns. Studien zeigen zum Beispiel, dass Mädchen in einem Mathetest schlechter abschneiden, wenn sie auf dem Testbogen ihr Geschlecht ankreuzen müssen.

2

Wie finde ich heraus, was mich in meinem Leben schwächt?

Um Energieräuber zu erkennen, lohnt sich eine ehrliche Bestandsaufnahme. Wir sollten uns zuerst fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was wünsche ich mir von ganzem Herzen? Was will ich in die Welt bringen? Und dann schauen, wo wir uns von unserem Pfad abbringen lassen. Wo stimmen wir zum Beispiel einer Verabredung zu, obwohl wir wissen, dass diese uns nicht wirklich am Herzen liegt? Dazu können wir die vorherige Woche betrachten und fragen: Welche Aktivitäten waren erfüllend, sinnstiftend oder freudvoll? Und welche fühlen sich eher schal und unnötig an? Hinter den Ablenkungen stehen oft Ängste. Wir fürchten, abgelehnt zu werden. Oder wollen von allen geliebt werden. Daher sagen wir „Ja“, wo wir lieber „Nein“ sagen sollten.

3

Was bedeutet es, mich selbst zu stärken?

Es kann bedeuten, dass wir bestimmte Fähigkeiten kultivieren. Zum Beispiel lässt sich durch Meditation trainieren, aufmerksamer zu sein, besser mit schwierigen Gefühlen umzugehen oder mitfühlender mit uns zu sein. Aber oft brauchen wir gar keine zusätzlichen Fähigkeiten, weil wir sie ­bereits in uns tragen. Es geht also darum, sich bewusst zu machen, was man eigentlich bereits hat und kann. Das gelingt zum Beispiel, indem wir uns Fragen stellen wie „Wofür bin ich dankbar?“ oder „Was kann ich gut?“. Das lässt sich in einer Meditation erkunden oder durch Aufschreiben. ­Tiefe innere Stärke entsteht, wenn wir uns selbst kennen. Wenn wir wissen, was wir wirklich wollen und wo wir uns selbst im Wege stehen, können wir unser Leben bewusster gestalten. Wir wachsen in unsere Kraft.

4

Muss ich mich von Energiefressern in meinem Leben wirklich trennen?

Wir alle müssen manchmal Dinge tun, die nicht ganz unseren Wünschen entsprechen. Es ist nur wichtig zu bemerken, wenn das so ist, um damit nicht mehr Zeit zu verbringen als nötig. Zugleich können wir diese unliebsamen Tätigkeiten auch als Übungsfeld betrachten und schauen, wie wir sie möglichst kreativ, freudvoll oder zumindest effizient gestalten können. Wer innerlich ablehnt, was geschieht, verbraucht unnötig Energie. Manche Energiefresser lassen sich aber auch direkt aus unserem Leben verbannen. Das kostet Kraft, aber es lohnt sich, sobald die Trennung gelungen ist. Wer den falschen Freunden abschwört oder eine unliebsame Gewohnheit aufgibt, bekommt mehr Raum im Leben. Für sinnstiftendere Tätigkeiten. Oder nährendere und schönere Beziehungen.

5

Sich selbst zu stärken und sich selbst zu lieben: Wo ist der Unterschied und wie hängt das zusammen?

Sich selbst zu stärken heißt, sich seine Ressourcen und Fähigkeiten bewusst zu machen und sie zu erweitern, das eigene Potenzial zu fühlen und zum Beispiel zu sehen: Ich habe es schon weit gebracht. Ich habe tolle Freundinnen. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kann ich sie meistern. Ich kann mich an dem erfreuen, was ist. Und mutig voranschreiten, um meine Träume noch weiter zu verwirklichen. Die innere Erlaubnis dafür kommt aus der Liebe zu uns selbst. Manchmal sabotieren wir uns, weil wir in der Tiefe glauben, dieses Glück gar nicht zu verdienen. Liebe, auch die zu uns selbst, ist die Grundlage dafür, dass wir uns entfalten können. Es geht um den aufrichtigen Wunsch, dass wir glücklich sein ­mögen. Und darum, sich wärmend und akzeptierend zu umfangen, auch wenn der Weg mal steinig oder schmerzvoll ist.

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Wie kann mir Achtsamkeit dabei helfen, zu meiner inneren Kraft zu finden?

Wir können zum Beispiel aufschreiben, was wir gut können und was wir an uns selbst gern mögen. Vielleicht kannst du gut programmieren, Texte schreiben oder zeichnen. Das sind harte Fähigkeiten, die oft am einfachsten zu erkennen sind. Aber denke auch an die weicheren Skills, die mindestens genauso wichtig sind: Vielleicht bist du einfühlsam, kannst gut mit anderen zusammenarbeiten, oder bist geduldig. Du kannst auch notieren, wer und was dich unterstützt: deine Freundinnen und die Familie, die dir zur Seite stehen. Orte oder Gegenstände, die dir ermöglichen, dich auszu­leben. Und ganz wichtig: Frag dich, was deine Vision ist. ­Welche Träume geben dir Kraft?

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Wie kann ich auch in schwierigen Situationen in meiner Kraft bleiben?

Schwierige Gefühle wie Trauer, Wut oder Angst gehören zum Leben. Es ist sehr hilfreich, sich das klarzumachen. Oft leiden wir darunter, dass wir gegen unsere Gefühle ankämpfen. Dass wir versuchen, sie zu unterdrücken, anstatt ihre Botschaft zu hören. Das erzeugt ­Anspannung und verbraucht viel Energie. Auch wenn es etwas Mut und Vertrauen erfordert: Trau dich, die Gefühle da sein zu lassen, zu ­ihnen zu stehen. Dafür ist es zentral, ein liebevolles, warmes Klima in uns aufzubauen. Es geht nicht darum, die Zähne zusammenzubeißen und zu warten, bis das Gefühl vorbei ist, sondern es wirklich zu fühlen und zu verstehen. Den atmenden Körper zu spüren. Die ­Bilder, Erinnerungen und Sehnsüchte in uns wahrzunehmen. Wir können fragen: Was, liebes Gefühl, willst du mir sagen? Und wie kann ich mich jetzt gut um mich kümmern?

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Wie gelingt es mir, meine Ressourcen in meinen Gewohnheiten zu verankern?

Regelmäßige Meditation ist ein guter Weg, um uns zu stärken. Dabei ist es weniger wichtig, wie wir meditieren: im Sitzen, Liegen oder Gehen. Ob wir uns selbst unsere ­Gefühle beschreiben, still mit ihnen sitzen oder darüber schreiben. Oder ob wir unsere Konzentration schulen oder Mitgefühl kultivieren. Vielleicht brauchst du jeden Tag eine andere Praxis. Das Wichtige ist, sich überhaupt Zeit zu nehmen. Am besten täglich. Damit signalisierst du dir: Ich bin es wert, dass ich mich um mich kümmere. Auf welche Weise auch immer. Sport oder Spaziergänge an der frischen Luft erhalten ebenfalls die Vitalität, genau wie der Kontakt zu anderen. Gegenseitig können wir uns auf ­blinde Flecken aufmerksam machen. Wenn wir unsere Beziehungen pflegen, stärken wir also auch uns selbst.

Foto: Unsplash, Julia Baier (Porträt)

Grenzen setzen – Bornemann

Achtsamkeit für jeden Tag

Grenzen setzen

Anderen gegenüber klarzumachen, was wir wollen und was eben auch nicht, macht uns zufriedener und letztlich sogar offener. Wie das geht, sagt Boris Bornemann

1

Wieso fällt es uns oft so schwer, Grenzen zu setzen?

Zunächst ist es wichtig zu wissen, was einem am Herzen liegt. Was sind meine Werte und Bedürfnisse? Wann wird es mir zu viel? Dazu muss ich mich selbst kennen und auch wertschätzen. Glaube ich selbst nicht, dass ich ein erholsames Wochenende verdiene, werde ich schwer ablehnen können, wenn ein Freund um Hilfe bei einem Umzug bittet – obwohl ich bereits überlastet bin. Zudem fürchten wir oft, dass andere uns ablehnen, wenn wir unsere Grenzen markieren.

2

Wie kann ich lernen, meine Grenzen zu erkennen, bevor ich mich überlastet fühle?

In der Meditation können wir uns selbst kennenlernen, indem wir zum Beispiel über die Frage reflektieren: Was ist mir wirklich wichtig? Das hilft, die eigenen Werte und Prioritäten zu sortieren. Oder wir erkunden unsere Gefühle: Wie geht es mir in meinem Job, in meiner Beziehung? Was laugt mich aus, was macht mir Freude? Wer im Alltag auf Körperempfindungen und Gefühle achtet, bemerkt besser, wenn Grenzen überschritten werden, und kann schneller reagieren. Außerdem kultiviert Meditation Freundlichkeit mit uns selbst. Sich selbst wertzuschätzen hilft dabei, weniger vom Zuspruch der anderen abhängig zu sein. Wir ertragen es auch mal, nicht gemocht zu werden.

3

Wie kann ich ohne schlechtes Gewissen Nein sagen?

Es hilft, sich klarzumachen, dass es kein egoistischer Akt ist, Grenzen zu markieren. Im Körper gibt es viele Milliarden Grenzen. Jede Zelle hat ihre Membran. Sie hält innen, was nach innen gehört, und hält fern, was dort nichts zu suchen hat. Ohne diese Grenzen würde der gesamte Organismus kollabieren. Wenn wir uns schützen und mit unseren Ressourcen haushalten, tun wir also immer auch etwas für das große Ganze. Wir bleiben ansprechbar und können anderen helfen. Grenzen haben ein schlechtes Image. „No borders, no nations“, sagt man – dahinter steckt die verständliche Sehnsucht nach Verbundenheit. Aber Grenzen können auch Schutz bieten. Nur wenn es die Möglichkeit gibt, Türen zu verschließen, fühlen wir uns sicher genug, jemanden hinein­zulassen.

4

Wie gelingt es im Alltag konkret, Grenzen zu setzen?

Erst mal müssen wir bemerken, wenn wir über unsere Grenzen gehen. Anspannung im Kiefer oder im Nacken oder innere Unruhe können ein Signal dafür sein, kurz innezuhalten, einen tiefen Atemzug zu nehmen, den Körper zu spüren und zu fragen: Was fühle ich? Welches Bedürfnis ist vielleicht gerade verletzt? Das nach ­Ruhe und Erholung? Fühlen wir uns nicht gesehen oder anerkannt? Können wir uns nicht so ausdrücken, wie wir wollen? Das zu erkennen ist die Grundlage dafür, dass wir für uns selbst einstehen. In der Kommunikation mit anderen ist es gut, Grenzen klar zum Ausdruck zu bringen, aber zugleich empathisch und wertschätzend zu sein. Zum Beispiel: „Ich sehe, dass es bei dir gerade eng ist, und würde dich gern unterstützen. Aber leider habe ich zurzeit selbst sehr viel zu tun.“ Oder: „Ich mag dich sehr, aber ich kann dir momentan nicht helfen.“

5

Können Grenzen mir auch dabei helfen, wieder in einen besseren Kontakt zu mir selbst zu kommen?

Grenzen sorgen dafür, sich selbst nicht zu überfordern. Sie schaffen Raum, sich selbst zu fühlen. Nur wenn ich nicht ständig Angst haben muss, dass andere in meinen Raum eindringen, kann ich mich fallen lassen; kann wirklich genießen, was in mir vor sich geht. Eine feste Meditationsroutine im Alltag zu verankern ist eine sehr gute Gelegenheit, das zu lernen. Wir nehmen uns Zeit für uns selbst. Um in uns hineinzuhorchen, uns etwas Gutes zu tun und zu kultivieren, was uns wirklich wichtig ist. Wir müssen diese Zeit oft gegen andere Ansprüche verteidigen. Andere wollen etwas von uns oder wir haben das Gefühl, dass wir uns diese Zeit nicht erlauben dürfen. Jeden Tag so für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, jeden Tag seelisches Wohlergehen zu priorisieren, ist eine hervorragende Übung in mitfühlender Selbstbehauptung.

6

Wie gehe ich mit einer wütenden oder enttäuschten Reaktion um?

Besonders wenn wir uns früher häufig selbst vernachlässigt haben, um anderen zu gefallen, kann neues, selbstbewussteres Auftreten für Irritationen sorgen. Es ist gut, das Verhalten dann noch einmal zu überprüfen: Wenn wir von außen auf die Situation schauen, haben wir dann den Eindruck, dass wir so handeln, wie es uns persönlich richtig und gut erscheint? Wenn ja, dann können wir den Angriff auf unsere Grenzen als eine Gelegenheit verstehen, noch selbstbewusster für sie einzutreten. Auch hierbei gilt wieder: Hart in der Sache, freundlich zur Person. Wir können Mitgefühl für die Schwierigkeiten des anderen zeigen. Und dennoch sehr klar darin sein, was wir wollen und was nicht.

7

Wie kann ich die Grenzen anderer achten?

Oft betrachten wir andere Personen durch die Brille unserer eigenen Bedürfnisse. Wir wollen, dass sie uns lieben und anerkennen. Dass sie etwas für uns tun oder uns etwas geben. Das ist vollkommen normal. Aber es ist gut, sich dessen bewusst zu sein. Kurz innezuhalten, die eigenen Wünsche zu fühlen und die Aufmerksamkeit auch zur anderen Person zu lenken. Ihr genau zuzuhören, sie anzuschauen und zu versuchen zu erkennen, was sie gerade braucht. Wenn wir uns gegenseitig als freie Individuen betrachten, tut uns das selbst gut. Denn wir machen uns nicht abhängig. Und es ist sehr wohltuend für den anderen, denn er fühlt nicht den Druck, unsere Bedürfnisse ­befriedigen zu müssen. Anstatt einer einen­genden Umarmung entsteht so ein freier, verspielter Tanz, der letztlich alle Beteiligten glücklicher macht.

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Sind Grenzen immer sinnvoll oder gibt es auch Momente, in denen ich mich öffnen sollte?

Grenzen sind kein Selbstzweck. Sie dienen dazu, das zu schützen, was uns wirklich wichtig ist. Sichere Räume zu bauen, in denen wir uns fallen lassen und auch mal jede Schutzhaltung aufgeben können. Das erfordert Vertrauen. Das stellt sich in der Regel vor allem in engen Beziehungen oder Freundschaften ein. Wenn wir in uns ruhen, wissen, was wir wollen und was nicht, können wir leichter mit offenem Herzen durch die Welt gehen. Wir bemerken schneller, wenn uns jemand zu nahe tritt. Wir brauchen aber keine dicken Mauern zu bauen, die uns selbst einengen und uns von der Welt abschneiden. Wir sind jederzeit frei, das Herz zu öffnen oder es eben auch zu verschließen.

Fotos: Plainpicture, Julia Baier (Porträt)

Geduldiger werden – Bornemann

Achtsamkeit für jeden Tag

Geduldiger werden

Auf etwas warten zu müssen kann uns ganz schön auf die Probe stellen. was dir in solchen Situationen hilft, die Ruhe zu bewahren, erfährst du von Boris Bornemann

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Was bedeutet Geduld überhaupt?

Geduld ist die Fähigkeit, auf etwas zu warten, was wir uns wünschen, oder aber mit etwas Unangenehmem zu leben. Entscheidend ist dabei der Gemütszustand. Geduldige Menschen nehmen zwar wahr, dass etwas unangenehm ist oder sie eine starke Sehnsucht haben, können das Leben aber trotzdem weiter genießen. Früher hieß diese Fähigkeit auch Langmut, was bedeutet: Wir können über lange Zeit guten Mutes bleiben, auch wenn nicht immer alles so läuft wie geplant.

Illustration: Lieke van der Voors

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Warum ist Langmut im Alltag hilfreich?

Interessant ist erst mal, dass sie sich schon im Kindesalter messen lässt, zum Beispiel mit dem sogenannten Marshmellow-Test. Man gibt Kindern einen Marshmellow und stellt sie vor die Wahl: Entweder du isst ihn jetzt gleich. Oder du wartest eine Viertelstunde und bekommst dann noch einen zweiten dazu. Menschen, die mit vier Jahren besser warten können, kommen auch als Teenager besser in der Schule zurecht. Sie haben eine größere Frustrations­toleranz, gelten als beherrschter und zeigen auch objektiv bessere Leistungen. Und eine indische Studie legt nahe, dass beharrliche Menschen auch zufriedener sind. Nicht nur, weil sie ihre Ziele erreichen. Sondern auch, weil sie ruhiger und ausgeglichener sind. Das ist eine gute Voraussetzung für das Glück.

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Gerade auf die schönen Dinge im Leben warten wir oft ungern. Warum?

Wenn wir uns etwas Schönes vorstellen, ist es für das Gehirn so, als wäre es bereits zum Greifen nahe. Es wird Dopamin ausgeschüttet. Das Schöne dann nicht zu bekommen führt zu Frustration, es ist fast, als würde es uns aus der Hand gerissen. Deshalb sollten wir uns bewusst machen, wie wir die Ungeduld durch unsere Gedanken anheizen. In der Corona-Zeit kommt noch die Unsicherheit hinzu. Das Gefühl, dass sich etwas nicht klar voraussehen lässt, aktiviert in unserem Gehirn das sogenannte anteriore Cingulum und im Körper das sympathische Nervensystem. Beides soll uns helfen, die Situation durch besondere geistige und körperliche Anstrengungen zu klären. Wenn das aber nicht geht, kann die Energie nirgendwo hin und wir erleben sie als Stress.

4

Wie helfen Meditation und Achtsamkeit, geduldiger zu werden?

Meditation ist ein sehr guter Weg, Geduld zu üben. Mit unserer Aufmerksamkeit im Körper und im Atem zu ruhen, bringt uns ins Hier und Jetzt. Wir bemerken so eher, wenn wir uns in Sehnsüchten und Fantasien verlieren. Wir ­können dann auch erforschen: Wie fühlt sich dieses Bedürfnis an? Was passiert bei mir, ­genau jetzt? So können wir spüren, wie lebendig uns diese Bedürfnisse machen, statt weiter darüber zu klagen, dass gerade nicht das ­passiert, was wir wollen. Diese lebendige Energie können wir nutzen, um das umzusetzen, was gerade möglich ist und auf das wir nicht warten müssen. Wir können uns auch fragen, wofür wir dankbar sind, und so dem Gefühl des Mangels etwas entgegensetzen. Das hilft uns zu erkennen, dass eine ganze Menge in unserem Leben bereits gut ist. Dadurch entsteht auch Kraft, Schwierigkeiten anzugehen.

5

Was kann ich noch tun, um mich in Geduld zu üben?

Das Wichtigste ist zunächst, die Ungeduld zu bemerken. Spannst du den Kiefer an, wirst innerlich unruhig oder ­wackelst mit dem Fuß? Hast du Gedanken, die dich antreiben? Erzählst du dir gerade die Geschichte, dass du erst glücklich sein kannst, wenn du dein Ziel erreicht hast? Oder dass Warten beim Arzt total nervig ist? Dann atme tief durch, spüre deinen Körper und mach dir klar, dass diese Unruhe durch deine eigenen Gedanken erzeugt wird. Was zunächst wie eine Schuldzuweisung klingt, ist tatsächlich sehr ermächtigend. Denn du hast den weiteren ­Verlauf in der Hand. Wende dich dir freundlich zu. Spüre deinen Körper und beschreibe dir selbst deine Gefühle. In ihnen liegt die Energie, die du in diesem Moment nutzen kannst. Du kannst dich fragen, was dir jetzt guttun würde. Vielleicht etwas lesen? Weiter den Körper spüren und die Zeit für eine kleine Meditation nutzen?

6

Im Moment geht vieles nicht, was wir uns wünschen. Was hilft, die Durststrecke zu überwinden?

Wenn wir von einem Urlaub träumen, in den wir gerade nicht fahren können, oder von Veranstaltungen, die jetzt so nicht stattfinden, können wir uns fragen: Um welches Bedürfnis geht es dabei genau? Und gibt es vielleicht alternative Wege, um es auszuleben? Manche Menschen erfreuen sich an ­Tätigkeiten, bei denen sie langsam, aber stetig etwas erschaffen – sich um Pflanzen kümmern oder etwas nähen. Solche Tätigkeiten beruhigen und trainieren uns in Geduld. Aber vielleicht willst du auch lieber laut Gitarre spielen, tanzen oder ­intensiv Sport treiben – und damit kreativ dein Bedürfnis ausdrücken, dich zu spüren und intensiv zu erleben.

7

Manchmal erweist sich eine ­Aufgabe als ungemein zäh. Wie bleibe ich trotzdem dran?

Wenn wir mit einem Artikel, einer Abschlussarbeit oder einem kniffligen Problem ringen, ist es kurzfristig erleichternd, sich abzulenken. Und auch ganz aufzugeben kann sehr verführerisch sein. Man wäre die ganze Anstrengung los. Aber nach der Erleichterung kommt oft die Reue. Das Gefühl, nicht wirklich für seine Träume und Wünsche einzustehen. Das sollten wir uns bewusst machen. Meditationserfahrung hilft in solchen Momenten sehr. Wir können die Körperempfindungen beobachten, die Anspannung und die Unruhe, und wissen, dass das vorübergeht, wenn wir beharrlich voranschreiten. Es ist außerdem wichtig, sich für die Mühe zu belohnen, nicht für das Ergebnis. Leg am besten schon vorher fest, wie lange du arbeiten willst, und mach regelmäßig kurze Pausen, zum Beispiel alle vierzig Minuten.

8

Wie sehr beeinflusst unsere Umgebung unsere Fähigkeit zu warten?

Neuere Untersuchungen des Marshmellow- Tests zeigen, dass die Fähigkeit von Kindern zu warten sehr stark von ihrem ­Elternhaus abhängt. Geht es zu Hause verlässlich und gerecht zu, können sie auch dem Versuchsleiter vertrauen. Müssen sie aber ständig Sorge haben, dass ihr Bruder ihnen den Marshmellow wegisst, während sie auf den zweiten warten, oder dass die Mutter sich das mit der Belohnung noch mal anders überlegt, nehmen sie lieber, was sie kriegen können. Sofort und ohne Rücksicht auf die Zukunft. Wenn wir also faire und sichere Umgebungen schaffen, sind wir alle etwas entspannter. Was beim Warten im Supermarkt oder beim Arzt zudem hilft, ist genügend Raum. Gestresst und ungehalten werden wir nämlich besonders dann, wenn andere Menschen uns zu nahetreten.

9

Was lehrt uns die Corona-Krise in Sachen Geduld?

Vielleicht, dass gegenseitige Rücksichtnahme allen guttut. Dass dadurch alles etwas ruhiger und freundlicher passiert. Wir haben auch gesehen, dass wir Wünsche aufschieben können, wenn es um ein wichtiges Ziel geht. Ich hoffe, dass uns das hilft, mit den kommenden Umbrüchen umzugehen. Denn wenn wir unsere Gesellschaft ­gerechter und nachhaltiger gestalten wollen, müssen wir uns auf einige Veränderungen einstellen. Nicht alles wird sofort klappen und auf einiges werden wir warten müssen. Aber wenn wir uns alle an den Wert des Ziels erinnern, können wir gemeinsam beharrlich sein und Erstaunliches erreichen.

10

Wie beeinflusst Geduld mein Wohlbefinden?

Wer geduldig ist, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Biologisch heißt das: Unsere Kampf- und Fluchtimpulse werden weniger stark aktiviert. Unser Zustand wird stärker vom Parasympathikus, unserem beruhigenden Nervensystem, dominiert. Der erlaubt unseren Organen zu regenerieren. Das Herz schlägt langsamer und variabler, ist insgesamt gesünder. Wer entspannt ist, ist auch kreativer und behält leichter den Überblick. Wir sind schwingungsfähiger, können uns leichter auf andere einstellen. Ihnen auch mal ihre Fehler und Eigenheiten nachsehen. Das stärkt unsere Beziehungen. Wer geduldig ist, kann fester mit seinen Werten und Zielen verwurzelt bleiben, auch wenn die Zeiten stürmisch sind. Geduld gibt uns Kraft. Sie hilft uns, unsere Träume zu verwirklichen.

Illustration: Lieke van der Voorst, Foto: Julia Baier